Gedicht

Wintervögel

Kommt der erste Schneesturm angeschnoben,
Hängt der Talgring schon am Giebel droben.
Sorgt euch nicht! In einem trocknen Eckchen
Baumelt prallgefüllt das Erdnußsäckchen.
Sonnenblumenkern mit Hanf und Lein
Werden reichlich vor dem Fenster sein.

Da der Kleiber taktstockmäßig klopft,
Läßt die Haubenmeise, spitzbeschopft,
Ihren wirschen Flötentriller los,
Und der Grünling kreischt tempestuos.
Weht ein Zirpen aus dem Schwarzgetann,
Welches nur ein Goldhähnchen sein kann.

Mit der Fastnachtsmaske vorm Gesicht,
Denkt die Blaumeise, man kennt sie nicht!
Stolz der Dompfaff wölbt den roten Bauch,
Und der Bergfink seinen bunten auch.
Glaubt man Blut auf falbem Flaum zu sehn,
Dürfte sich’s um einen Hänfling drehn.

Ach was hat dies Rotkehlchen verführt,
Daß es nicht den Drang zum Wandern spürt!
Andre seinesgleichen schnalzen jetzt,
Wo der Kalif Storch den Schnabel wetzt.
Doch vielleicht auch ließ man sie bereits
Bruzzeln in der italien’schen Schweiz.

Dicke Amsel auf dem kahlen Ast,
Wo du jetzt noch deinen Schmer her hast?
Oder plusterst du dich nur aus Wut,
Wenn du siehst, was sich im Rinnstein tut?
Unbestritten hält dort seinen Platz,
Wie im Sommer, der gemeine Spatz.

Hundertmal das Hälschen ausgereckt,
Eh den Schnabel man ins Futter steckt!
Lautlos schleicht der Katzenfuß im Schnee,
Und der Stößer kreist in Wolkenhöh.
Viel zu viele gehen drauf alljährlich.
Paßt nur auf! Das Leben ist gefährlich…

Doch ihr wisst, dass man dem schwarzen Mann
Hinterm Fensterkreuz vertrauen kann.

Carl Zuckmayer

Veröffentlicht von piri

✨ In Momenten, in denen ich an mir und meiner Arbeit zweifle und meine, nichts Gutes auf die Reihe zu bekommen, denke ich manchmal daran, mir kurz das, was ich schon geschafft habe, anzuschauen. Dann geht's wieder. ✨ Hier gibt es die Möglichkeit etwas in den, wenn auch nur virtuellen Hut zu werfen. Herzlichen Dank!

6 Gedanken zu „Wintervögel“

  1. Frau Lakritz sagt:

    Und wieder ein so schönes Gedicht! Danke, Petra! Das hätte meinem lieben Uli Stein, der ja vor seinem Bürofenster eine „Imbissbude“ (so nannte es) für die Vögel aufgebaut hatte, gut gefallen. (Und mir wird gerade wieder schmerzlich bewusst, wie sehr er fehlt und dass ich ihm nun nicht mehr einfach den Link schicken kann, damit er eine Freude hat.

    1. piri sagt:

      Dieses Gedicht hätte ich niemals mit Zuckmayer in Verbindung gebracht.

      Der Begriff Imbissbude von Uli Stein gefällt mir und ich wusste gar nicht, dass du so vertraut mit ihm warst! Schön, ich mag seine Mäuse …

  2. karfunkelfee sagt:

    Deine Gedichteauswahl ist famos!

    1. piri sagt:

      Danke, es macht mir auch Spaß und ich gebe mir Mühe!

  3. Gerel sagt:

    Sehr schön ausgesucht. – Rotkehlchen habe ich heute auch gesehen!

    1. piri sagt:

      Es ist schön, die Vögel zu beobachten!

Kommentare sind geschlossen.