Kuddelmuddel

Frühmorgensgedanken

Aufgewacht um 5:05 Uhr

Der Bauch grummelt. Dabei weiß ich nicht, ob es der Magen oder eher meine Angst ist. Ich organisiere die Kurzzeitunterbringung der Junioren und habe noch immer keinen offiziellen Brief von meiner Kurklinik. Wird das wieder so ein Desaster, wie im Herbst? Nur andersrum!

Ernsthaft – wenn das nichts wird, drehe ich durch. Wie sehr ich in solchen Situationen meinen Mann vermisse ist wohl für jeden klar. Wie ich das hasse: Machen Sie sich keine Sorgen, alles ist geklärt! Aber ich hänge frei schwebend am seidenen Faden mitten überm Abgrund! Wenn der Kurtermin nun doch nicht steht? Mir wurde er im Oktober nur telefonisch mitgeteilt. Es hängt eine Menge dran. So flexibel bin ich nicht, dass ich eine Woche früher oder später gehen kann. Die Junioren haben Geburtstag und ich dieses Jahr auch. Der Korridor dazwischen ist eng. Außerdem sind Kurzzeitplätze rar und schon Monate im Voraus verplant – da ist für Spontanität kein Platz.

Kuddelmuddel

Dinge, die gut für mich sind

 

  • ausschlafen
  • langsam Atmen
  • schreiben
  • durch die Weinberge schleichen
  • Achtsamkeit
  • Gedichte lesen
  • lesen überhaupt – auch melancholische Lektüre 
  • in der warmen Badewanne liegen 
  • frische Bettwäsche
  • lachen mit den Junioren 
  • das Wissen, dass vielleicht jemand diese Worte liest und sie versteht
  • nachts Deutschlandradio hören
  • weinen

Müde bin ich. Unendlich müde. Heute morgen bin ich viel zu früh wach gewesen und konnte nicht wieder einschlafen. Den ganzen Tag hat einer der Junioren irgendetwas von mir gewollt. Entweder vorlesen, oder Puzzle spielen, oder einfach nur unterhalten, oder zuhören, oder darüber diskutieren, dass ein Glas Cola über den Tag verteilt definitiv zu wenig Flüssigkeit ist. Nebenbei habe ich Carstens Bett gewaschen, das umgekippte Inhaliergerät gerettet und den Teppich trockengelegt. Mein rechter Zeigefingernagel und mein linker Ringfingernagel ist abgebrochen, aber ich wollte sowieso – ja, was wollte ich? 

Herzen habe ich ans Fenster gehängt …

Klick macht groß – selbstgenähte Herzen am Fenster
Kuddelmuddel

Wach auf

Am Strand – ich bin als Kind fast nie am Strand gewesen, wir waren meistens in den Bergen oder wandern. Aber jetzt war ich am Meer. Die See flutet auflandig und eine leichte Brise weht. Scharf am Wasser laufe ich. Ich bin allein. Es ist frühmorgens, noch niemand ist wach. Bin ich wirklich weggelaufen?  Ich kann es nicht glauben! Es ist Herbst und ich bin das erste Jahr in der Schule. Direkt am Meer kann ich gut laufen, der Sand ist fest und dennoch sind meine Schuhe nass. Es ist mir egal, ich will nur weg. Gestern gab es wieder dicke Bohnen und Speck und ich musste so lange sitzen bleiben, bis der Teller leer war. Mein Trick war, alles in die Backentaschen zu stecken und dann gleich aufs Klo zu gehen. Nur war der Trick nicht neu! Nie, niemals nicht mehr, so habe ich mir geschworen, will ich labbrigen Schweinespeck essen müssen. Aber am nächsten Tag gab es ihn, in anderer Variante, wieder – ich sollte ja zunehmen. Klebrige Graupensuppe mit Speck! Und wenn du das nicht aufisst, bekommst du keinen Nachtisch! Was habe ich auf diesen Nachtisch gepfiffen, ich wollte nur weg – nach Hause, zu meiner Oma, wo es Milchreis und Gemüsesuppe ohne Speck gab.

Dieser Morgen war günstig. Die Aufseherin musste mal aufs Klo und ich auch. Aber sie hatte nicht gesehen, dass ich schon vollständig angezogen war. So rutschte ich, als sie gerade an der Strippe zog, durch die Hintertür, vor der sie noch vor kurzem rauchend stand und war in der Dämmerung allein auf der Insel. So kam es mir jedenfalls vor. In welcher Richtung war noch mal die Fähre? Egal, nur weg vom Speck! Tränen liefen mir übers Gesicht. Was sollte ich in diesem Heim? Kindererholungsheim! Ich war nicht mager, vielleicht ein bisschen sehr schlank, aber das waren alle Kinder, die nicht mit Speck gemästet wurden. Wenn mir denn wenigstens beim Mittagsschlaf meine Bücher gelassen wären, dann hätte ich das andere auch ausgehalten. Aber weder Pipi noch Susi und Strolch oder meine anderen Bücher waren mir geblieben: Du sollst zu Kräften kommen und nicht lesen. Wenn nicht mittags, wann sollte ich das sonst tun? Abends, im Schlafsaal mit 30 anderen Mädchen? Ohne eigene Nachttischlampe?

Dieser Morgen am Wasser endete bald. Von hinten zog mich eine Hand harsch zurück und schon hatte ich sie im Gesicht. Zum Frühstück gab es am Katzentisch keinen Kakao und nur ein Schwarzbrot mit Margarine, dafür mittags extra viel Speck und Bratkartoffeln. Ich sehnte das Ende herbei – oder endlich die leise fürsorgliche Stimme meiner geliebten Oma: Wach endlich auf, die Schule wartet nicht auf dich!