Gestern bekam ich von einer befreundeten Mutter, die ebenfalls zwei behinderte Kinder hat, eine Nachricht. Ihre Kinder haben auch eine Genstörung, allerdings etwas ganz anderes als meine Junioren. Ihre Tochter (sie ist Ende dreißig) wurde vor Jahren in ihrer damaligen Schule vergewaltig. Schon diese Tatsache ist erschreckend, strafbar, absolut verwerflich und hat das Mädchen zusätzlich zu ihrer Behinderung – sie ist blind und geistig beeinträchtigt – nachhaltig verstört und für ihr weiteres Leben psychisch, kognitiv und auch körperlich schwer getroffen. Immer wieder gibt es Phasen in denen Julia (Name geändert) mit der Tat konfrontiert wird und diese sie einholt und dann ein sehr schwieriges Verhalten an den Tag legt, zum Beispiel ihren Bruder beißt, ihre Eltern schlägt, Essen verweigert, nicht mehr spricht und wegläuft. Einfach auf die Straße läuft, nur weg! Für meine Bekannte ist das schwer zu ertragen, möchte sie ihrer Tochter das Leid gerne abnehmen. Elterngesprächen ist die junge Frau dann nicht zugänglich – und da kommt die Krux: es gibt kaum Psychologinnen, die mit geistig behinderten Menschen eine Traumatherapie machen (können). Ich habe es ja selbst festgestellt, weil ich für den Kerle immer noch psychologische Unterstützung suche.
Vorgestern hat das befreundete Paar ihre behinderte Tochter, die autoagressiv ist und ihren Bruder massiv verletzt hat, zu ihrem eigenen und den Schutz der anderen, in eine Klinik gebracht. Mit sehr schlechtem Gewissen, auch mit dem Wissen, dass dort nur akut mit Medikamenten geholfen werden kann, nicht das eigentliche Thema aufgearbeitet wird und dass die junge Frau nur ruhig gestellt wird. Ein schlimmer Affront! Eine Backpfeife für die Seele der ganzen Familie! Eine Notlösung und Bankrotterklärung für die geistige Gesundheit der geistig behinderten Menschen. Hat dieser Mensch, damals, nur sein sexuelles Interesse im Kopf gehabt? Nicht gedacht? Nur sein eigenes Vergnügen? Er wurde zwar verurteilt, ist inzwischen wieder frei und darf nicht mehr als Erzieher arbeiten. Aber er hat nicht jeden Tag Alpträume, muss nicht mit den Ängsten leben. Seine Familie leidet nicht unter der unkontrollierten Aggressivität…
Sammelmappe sagt:
Das ist entsetzlich. Mir tut die Familie so leid.
Es ist so hart, dass ausgerechnet die Schwächsten keinen geeignete psychologische Unterstützung erhalten.
piri sagt:
Es ist eine Katastrophe für die Familie. Der Bruder vermisst seine Schwester, die Eltern ihr Kind und die junge Frau kann das alles nicht verstehen.
Reni E. sagt:
Wie kann ein Erzieher so etwas machen? Wie kann überhaupt jemand so etwas machen? Manchmal bin ich fassungslos über die Abgründe der Menschheit. Es ist eine Schande, dass den Opfern nicht adäquat geholfen wird.
Liebe Grüße
Reni
dergl sagt:
Leider (oder sollte man sagen zum Glück, weil die Sache dadurch sichtbar gemacht wird?) sind die Datenbanken von Rechercheprojekten wie ableismus.de voll mit Gewaltfällen in Einrichtungen und trotzdem passiert in Bezug auf Hilfe für Opfer NICHTS oder maximal das, dass man sich um Plätze in der allgemeinen Psychotherapie, die auf Nichtbehinderte ausgerichtet ist, bewerben soll und wenn dort nach Jahren ein Platz frei wird, endet es vielleicht trotzdem in den Katastrophe, weil halt nicht alles, was für Nichtbehinderte passt auch für behinderte Menschen passt. Die Interessenvertretungen sind dran, erreichen aber nicht viel. Trotz dem seit über zehn Jahren Studien auf dem Tisch liegen, dass 50-80% aller behinderten Frauen Gewalterfahrungen haben, ca. 60% sexuelle oder sexualisierte Gewalt erfahren haben und Einrichtungen ein besonders hohes Risiko darstellen, wegen des Machtgefälles. Also die Daten sind da, hat das Bundesamt für Familie, Frauen und Seniorinnen schon 2012 auf den Tisch gelegt (was ja auch in deinem Link erwähnt wird), aber es passiert nichts. Egal wie laut auch behinderte Politikerinnen (Katrin Langensiepen ist da gut mit dabei) oder Aktivist*innen (Kollodzieyski, Krauthausen, Link, die Frauen vom Weibernetz….) darauf aufmerksam machen. Dass alles ignoriert wird, wird zum Teil so begründet, dass behinderte Menschen in der Psychotherapie nicht vorgesehen sind, weil sie eben in „geschützten Rahmen“ leben. Dass „geschützter Rahmen“ eben nicht schützt hätte man spätestens nach dem Wittekindshof (das war noch vor Potsdam und hat über 100 nachgewiesene Fälle) wissen können, aber man hält lieber an seinem 50er Jahre-Versprechen fest.
M. - K. sagt:
Danke, dass Du mit „Julia“ diesem schweren wie wichtigen Thema ein Gesicht gibst, piri!
Gerel sagt:
Schrecklich!!!
piri sagt:
Es tut mir leid – ich werde nicht jeden Kommentar beantworten. Dazu fehlt mir die Energie. Nichtsdestotrotz bin ich dankbar für eure Gedanken. Ich freue mich über Kommentare!