vergessen dürfen

Lethe, die griechische Göttin des Vergessens, ist wandelbar und wandelt. Sie liegt als Fluss zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten. Wer stirbt, trinkt aus ihr und vergisst alles; wer geboren wird, trinkt aus ihr und vergisst alles. Aber Lethe ist nicht immer ein Fluss, und wir müssen nicht unbedingt aus ihr trinken, um gewisse Dinge zu vergessen.

Manchmal verwandelt sich Lethe in Zeit. Dann vergessen wir nach zwei Tagen, dass wir Schmerzen hatten, nach vier Monaten, wie es sich mit kahlen Bäumen lebte, nach drei Jahren, wie ein Kuss geschmeckt hat. In den Nächten spült Lethe durch die Labyrinthe unserer Träume. Dann wäscht sie Bilder und Menschen und Orte von den Wänden unserer Erinnerung und fügt sie zu neuen Geschichten und Formen zusammen, die wir morgens noch wissen manchmal.

Manchmal, wenn die Zeit gekommen ist, legt uns Lethe von hinten eine Hand auf die Schulter und entstreift uns die Erinnerung, dass wir verletzt worden sind. Wir können uns verlieben dank dieser Hand.

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Mit meinen Themen – dabei bin ich immer noch dieselbe – ändert sich die Leser*innenschaft. Mit diesem Text möchte ich an alte Zeiten anknüpfen. Kann aber nicht versprechen, dass es so poetisch bleibt. Ist doch meine momentane Situation extrem komplex und angstbeladen…

 

Kategorien: Gedanken, Musik

5 Kommentare

  1. Manches Mal wünsche ich mir vergessen zu dürfen, andere Male bin ich froh, die – auch sehr schwere, belastende, traurige – Erinnerung zu haben. Sie ist auch Lebenserfahrung.
    Sind wir nicht alle komplexe Wesen? Mit vielen Facetten. Manchmal nur eindimensional gelesen, doch selten seiend.
    Du leistest schwere Arbeit und ich wünsche Dir Kraft, hinzuschauen, wahrzunehmen und Unterstützung anzunehmen. Liebe Grüße!

  2. Ein Text, der mir Flusslandschaften in Fontainebleu in die Hirnwindungen zaubert, Medizin- und Heilbilder, Arbeitsbilder, Gedankenimpulse und Denkanstupser. Wunderbar.

    • Den Mythos von Lethe kannte ich nicht. Ein starkes irgendwie tröstliches Bild für das Geschehen beim Sterben wie beim Geborenwerden.

      Ganz besonders mag ich dein frühlingshelles Bild dazu – Neuanfang.

  3. Wunderbar. Danke dafür.
    Lethe ist für mich kein Fluss des Vergessens, sondern der leisen Verwandlung.

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