Bücher, Kuddelmuddel

Mio mein Mio

„Sieh zu, dass du das Herz trifft!“ schrie er. „Sieh zu, dass du mein Herz aus Stein durchbohrst! Es hat lange genug in meiner Brust gescheuert und wehgetan.“ Ich sah in seine Augen. Und in seinen Augen sah ich etwas Seltsames. Ich sah, dass Ritter Kato sich danach sehnte, sein Herz aus Stein loszuwerden. Vielleicht hasste niemand Ritter Kato mehr, als Ritter Kato selbst.

Aus: Mio, mein Mio – wie alle Bücher von Astrid Lindgren, mag ich auch dieses sehr gerne. Carsten hat eine andere Meinung und Wiebke gar keine …

Behinderung, Familie, Gedanken, Gedicht, Junioren, Kuddelmuddel

Jakob

Jakob war der Büffel seiner Herde.
Wenn er stampfte mit den Hufen,
Sprühte unter ihm die Erde.

Brüllend ließ er die gescheckten Brüder.
Rannte in den Urwald an die Flüsse,
Stillte dort das Blut der Affenbisse.

Durch die müden Schmerzen in den Knöcheln
Sank er vor dem Himmel fiebernd nieder,
Und sein Ochsgesicht erschuf das Lächeln.

Else Lasker Schüler

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Dieses Gedicht ist eines meiner Lieblingsgedichte – vielleicht, weil ich mich drin wieder finde?

Ich bin krank. Wir kommen also nicht raus. Die Junioren kommen nicht an die frische Luft. Inzwischen habe ich Fieber – nicht hoch, aber konstant. Zwei Menschen diskutieren mit mir über Essen und Trinken. Gemeinsam mit mir. Gegeneinander. Miteinander gegen mich …Carsten hat kognitiv abgebaut. Wiebke macht sich Sorgen. Aus Solidarität verweigert sie die Nahrungsaufnahme. Ich habe Panikattacken, denke, überlege, wie ich Flüssigkeit in diese beiden bekomme. Es geht, ich schaffe es. Es kostet Kraft, meine Kraft – die ich grad nicht wirklich habe – Fieber!

Normalität aufrechterhalten kostet Kraft. Die Angst versagt zu haben ist groß. Gutsle und Plätzchen oder Bratkartoffeln mit Speck, Rapunzelsalat und Eier vom Gretahuhn – nichts schmeckt oder animiert auch nur zu probieren. Essen ist ein Druckmittel – auf drei Seiten. Es ist sogar schon so, dass auch ich keine Lust mehr habe zu essen. Anscheinend stecken wir in einer Spirale gefangen.

Meine Angst ist eine große dunkle Wolke mit Krallenhänden, die ich nur durch einen Spielenachmittag im Griff habe – und dann kommt die Nacht!

Behinderung, Junioren, Kuddelmuddel

Bandauftritt | am Morgen danach

Oft bin ich dazwischen. Auch gestern wieder. Nicht dabei – es ist was anderes. Gestern war ich Mittler, war ausgleichendes Element und Gegensteuerer gegen den Pessimismus, gegen die Angst ohne den Bandleader – den Musiktherapeuten – zu versagen. Ausgerechnet ich! Ich, die doch als Bedenkenträgerin bekannt ist. 

R. ist krank, liegt mit 40-Fieber im Bett und die anderen Bandleute haben niemanden an den sie sich hangeln/festhalten können. Er spielt doch den Gitarrenpart, er ist der Hauptsänger, gibt den Ton vor und ist der Macher. 

Alles absagen? Nein, geht nicht. 

Diese Inklusionsband muss an höchster Stelle auftreten und ihre Professionalität beweisen. Die behinderten Musiker sind stark verunsichert. In der Künstlergarderobe verteile ich Kekse, mache Späße. Ich mache Späßchen. Ich, die so was gar nicht kann. Halte die Moral hoch, währenddessen M. übt und übt und übt. M. ist Vollblutmusikerin. Sie hat die Lieder schon mal gespielt. Doch eigentlich spielt sie in dieser Band Bass. 

Im Auto auf der Hinfahrt saß sie neben mir und büffelte Noten und Gitarrengriffe. Jetzt übt sie. Wir dürfen nicht stören. Dabei haben Carsten & Co so viele Fragen. Ich versuche den Druck rauszunehmen. Es gelingt mir. Nie hätte ich gedacht, dass mir das so eine Freude macht. 

Die Spannung ist greifbar. Das Programm wird umgeschmissen. Für Menschen mit kognitiven Einschränkungen  eine Mordsherausforderung. Sie sind aufgeregt. „Ich kann das nicht!“ „Ich habe das noch nie gemacht!“ … und dann dies alles im Neuen Schloss in Stuttgart, bei der Weihnachtsfeier des Sozialministeriums. Was für eine Leistung!

Soundcheck. Wow,  ein Klang! Profis machen die Steuerung. Der ganze Saal bebt und jeder wird gehört und keine Übersteuerung, kein Quietschen wie sonst. Richtig geiler Sound. Ein Klang, wie bei einer ‚echten‘ Band. Nein – sie sind eine echte Band, sind klasse und sie können alle was. Sie sind super und der große C. managt ganz easy die Misere und macht peu a peu ein Ganzes draus. Ohne, dass man die Anstrengung sieht. Ohne, dass die Bandmitglieder Panik kriegen – ohne den Bandleader, den Musiktherapeuten. Super. 

Die Gäste trudeln ein. Die Spannung ist greifbar. Alles wird gut! Wird es das? 

Sie gehen auf die Bühne. Singen mit dem Saal – o je, ich weiß nicht mehr welches Weihnachtslied – dann spielen sie We are the World und haben den Saal, das Publikum. Von da an ist es ein Selbstläufer. Ein Läufer mit Gehwagen und Rollstuhl, mit Stolperern und winzigen Pannen. Mein Carsten spielt Mundharmonika an Stellen, wo er noch nie gespielt hat. Wiebke gähnt während einer Rede im Hintergrund auf der Bühne, als ob sie die Rednerin fressen wollte. 

Die Band spielt sich in die Herzen des Ministeriums. 

Beim anschließenden Empfang sagt eine Frau zu mir und sagt es immer wieder: „Das war die schönste Weihnachtsfeier seit langem!“ Ich bin stolz. 

Die bunten Mützen sind wahnsinnig stolz und zu Recht – es war wunderbar. Platt und erschöpft – aber glücklich und stolz. 

Das muss erst mal jemand nachmachen.  Da bin ich gerne dazwischen.