Allgemein, Behinderung, Gedanken, Gedicht

Zwanzigsechzehn

Egal, wie es dir geht, steh auf, zieh dich an und zeig dich!

Ilona wischt sich die letzte Träne vom Kinn. In dieser Nacht konnte sie vor Schmerzen wieder einmal nicht schlafen. Ihr Rücken war kaputt, daran gab es nichts zu rütteln. Dieser Auffahrunfall vor Jahren, als ihr der dicke Mercedes auf ihre kleine Ente gedonnert ist, hat ihr Leben grundlegend geändert. Zum Glück war nur ein Wirbel angebrochen, aber seitdem hat sie einen leichten Buckel. Sie trägt schwer daran, lastet doch so schon viel auf ihren Schultern und nun haben diese einen zusätzlichen Knacks. 

Als ihre Tochter geboren wurde – nein, wir müssen anders anfangen. Ilona studierte auf Lehramt. Sie wollte nicht an ein Gymnasium: „Ich gehöre zu denen, die nicht vom silbernen Teller essen.“ Grund- und Hauptschule war ihr Ziel. Eine möglichst kleine Schule! Dort ist sie auch hingekommen und unterrichtete von Anfang an dritte und vierte Klassen. Dann wurde eine Tochter geboren. Nach einem halben Jahr stand sie wieder auf der Matte. Corinna war ein liebes Kind, ordnete sich gut unter und war sehr pflegeleicht. Nach drei Jahren war Ilona wieder schwanger und gebahr noch eine Tochter. Catharina war allerdings ganz anders. Catharina hat eine Chromosomenanomalie, mit Herzfehler und diversen anderen Kleinigkeiten. Ilona fuhr mit ihrem kleinen Auto ohne Knautschzone lange Wege zu diversen Krankenhäusern ihre Tochter zu Untersuchungen bringen, sie abholen oder um sie dort zu besuchen. Ihren Lehrerinnenberuf hatte sie für zwei Jahre ausgesetzt. Ja, und dann fuhr ihr dieser dicke Schlitten ins Heck. Schleudertrauma, angebrochene Halswirbelsäule.

Wir haben uns aus den Augen verloren, weil ich umgezogen bin. Lange haben wir uns nicht gesehen – noch nicht einmal telefoniert. Zwischenzeitlich hatte ich einen ähnlichen Unfall, vierter Halswirbel angebrochen. Ich meldete mich bei Ilona, weil ich wissen wollte, wie sie wieder auf die Beine gekommen ist. Ich selbst hatte kaum Schmerzen, spüre sogar jetzt nur einen leichten Knubbel im Nackenwirbelbereich.  Bei Ilona war das anders – ihr tat es immer weh.

Ilona ist  – nein, sie war wunderbar, denn Ilona lebt auch nicht mehr. Ihre behinderte Tochter ist ein Bandmitglieder und manchmal, so auch gestern sehe ich in der kleinen langsamen, etwas ungelenken behinderten Frau den Schalk von ihrer Mutter aufblitzen. Dann nehme ich Catharina in den Arm, so wie ihre Mutter mich in den Arm genommen hat, wir wiegen uns ein bisschen und dann gehen wir laut prustelachend auseinander. Wir wischen uns gegenseitig die Tränen vom Kinn – und gut ist‘s.

Veröffentlicht von piri

✨ In Momenten, in denen ich an mir und meiner Arbeit zweifle und meine, nichts Gutes auf die Reihe zu bekommen, denke ich manchmal daran, mir kurz das, was ich schon geschafft habe, anzuschauen. Dann geht's wieder. ✨

6 Gedanken zu „Zwanzigsechzehn“

  1. Sonja sagt:

    Tief innen rührt mich das an!

    1. piri sagt:

      Ich kenne noch viele solche Geschichten.

  2. Gerel sagt:

    Kann ich gut verstehen! – Danke, dass du es berichtet hast!

    1. piri sagt:

      Wie bitte? Ich kann deinen Kommentar nicht verstehen!

  3. Reni´s Odds and Sods sagt:

    Das ist eine traurige und gleichzeitig schöne Geschichte.
    LG Reni

    1. piri sagt:

      Danke – wenn ich so nachdenke, kenne ich eine Menge Menschen die besonders sind oder es waren. Ilona war eine unglaublich diplomatische Frau – eigentlich das Gegenteil von mir.

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