Behinderung, Gedanken

Die Mutter von Harti

Harti war »Der Behinderte« in meiner Kinderzeit. Er wohnte uns auf dem Luisenhof genau gegenüber, war schon groß und wollte immer fliegen lernen!

Wir Kinder haben mit ihm gespielt, ihn aber auch gefoppt und lächerlich gemacht. Er hat es hingenommen, gelacht und ist weitergeflogen. Hat mit den Armen gerudert, Motorengeräusche gemacht und lief, mehr stolpernd, als geradeaus, meist genau durch die Pfützen über den ungeteerten Hof. Ob Harti zur Schule gegangen ist oder schon in eine Behindertenwerkstatt, das weiß ich nicht mehr. Von Frau Schrader weiß ich nur, dass sie eine Frau mittleren Alters war und sehr kaputt aussah.

Hat sie gearbeitet? Ich weiß es nicht! Sie hatte nur Jungs. Waren es 4 oder 5? Ich weiß es nicht mehr! Horst, Hartmut, Michael, Detlef,?. Die Brüder waren untereinander nicht die besten Freunde. Aber einen von ihnen wurde der behinderte Bruder immer aufs Auge gedrückt. Damit Frau Schrader das Haus richten konnte. Harti war nämlich nicht sauber. Überhaupt nicht sauber – in jeder Hinsicht nicht sauber. Das zu einer Zeit, als es Waschmaschinen noch nicht in jedem Haushalt gab. Die Frau hatte sehr raue Hände vom ewig im Wasser sein. Auch gab es keine Wegwerfwindeln und manchmal stank Harti schon sehr.

Als kleines Mädchen war ich nicht zimperlich. Als kleines Mädchen habe ich oft versucht Harti anzufassen. Er war meistens schneller. „Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann?“ So nassforsch wie ich tat, war ich nicht. Ich habe mich einerseits schon sehr gefürchtet und andererseits wollte ich diese Mutprobe!

Was muss Frau Schrader – die oft hinter der Gardine des Wohnzimmerfensters stand – gedacht haben, ob des bösen Spiels, das wir Nachbarkinder mit ihrem Sohn veranstalteten? Hat sie die Zähne zusammengebissen? Hat sie geweint? Manchmal, wenn wir es gar zu arg trieben, kam sie mit wehenden Schürzenbändeln raus, schnappte sich ihren ältesten Sohn, zog ihn hinter sich her und schmiss die Haustür mit einem lauten Knall hinter sich beiden zu. Danach wurde es laut im Haus gegenüber. Harti weinte, Frau Schrader mit ihm mit, sie schrie, er schrie. Sie schrie nach draußen nach ihren anderen Jungs, diese schrien zurück und wollten natürlich nicht ins Haus. Meine Oma schrie nach uns und holte uns, mich manchmal an den Zöpfen ziehend in unser Haus.

Was ist aus Harti geworden? Was ist aus Frau Schrader geworden? Fast zeitgleich sind wir umgezogen. In den gleichen Vorort. Nur wir auf den Hügel und sie mit ihrer Familie ins Tal.

Seit längerer Zeit denke ich wieder öfter an Harti und seine Mutter. Ich weiß nichts von ihr! Ich wusste nichts von ihr! Und ich möchte nicht so sein. Darüber definiert werden, die Mutter eines oder mehrerer behinderter Kinder zu sein und sonst nichts!

Behinderung, Kuddelmuddel

Ist es das Leben, das Sie sich erträumt haben?

Diese Frage hat mich erstaunt. Warum fragt mich die Psychologin das, weiß sie doch, dass mein Leben gewiss nicht leicht ist. Sie lächelte und fragte mich noch einmal.

…und ich habe jetzt was zu knabbern.

Ich habe doch nur dies eine Leben. Soll ich hadern? Dann hätte ich ja noch mehr Probleme! Schon lange habe ich mir angewöhnt im hier und jetzt zu leben – natürlich mit Blick auf gestern und morgen. Aber leben kann ich nur im Moment und da spielt es, für mich, keine Rolle, ob ich es mir erträumt habe – es muss gelebt werden. So oder so!

Behinderung, Familie

auffressen

Schon wieder ein Titel mit essen. Aber es hat überhaupt nichts – oder nur sehr am Rande – etwas mit Carstens  Nichtessen zu tun. 
Mein Blogdilemma ist, dass ich einerseits mich nicht bloßstellen, andererseits meine/unsere Situation schildern möchte. Wie ich schon mehrfach schrieb, möchte ich nicht auf die Tränendrüsen drücken, aber zu sachlich will ich dennoch nicht schreiben. Angriffsfläche mag ich nicht bieten, Verständnis und Anteilnahme hätte ich gerne. Meine, manchmal schon sehr schroffe direkte, Art stößt Menschen vor den Kopf. Ich bin anders,  nicht nur mit dem Asperger. 

Oweh, schon wieder die gleiche Litanei! „Du musst doch bloß Hilfe annehmen! Fahr in Urlaub! etc. pp.“ Ich weiß, dass diese Ratgeber oder Vorschlaggeber es gut mit uns meinen. Mir nichts Böses wollen. Und genau, da wiederholt sich die Litanei noch einmal, ich habe keine Helfer, die ich bezahlen und auch einmal alleine mit den Junioren lassen kann.  
Gestern habe ich mich riesig gefreut, als ich in einer Mail las, dass es ein Mütterkurheim in Niedersachsen gibt, das auch behinderte Erwachsene zusammen mit der Mutter aufnimmt.  Dann las ich die Betreuungszeiten und musste feststellen, dass diese noch geringer sind, als die, die ich jetzt habe. Dazu in einem Umfeld, das bestimmt schön ist, aber so gar nicht unseren Bedürfnissen entspricht und bei dem ich einen logistischen Mehraufwand habe, weil die Hilfsmittel nicht dem entsprechend, die ich Daheim habe. Wir müssten improvisieren. Also nützt mir so etwas nicht – ganz abgesehen davon, dass ich ja im Januar die Reha mache, von der ich mir auch nicht viel verspreche. 
Urlaub machen täte ich gerne – zusammen mit den Junioren in eine schöne Ferienwohnung mit Vollpension. Darf ich neidisch sein? Und doch gönnen können? Darf ich das, im Angesicht der Flaschensammlerinnen und armen Alten?

Ich bin zerrissen. Klage vermutlich auf ziemlich hohen Niveau, krieg nichts auf die Reihe und gehe dabei nicht nur mir selber auf den Keks. Es ist alles nur angerissen, der Riss schmerzt.  Ich bin müde, möchte aber auch leben!

Mich fressen die Ängste auf …