Kuddelmuddel

Über Angst

Da unsere Kindheit lange dauert, stehen die Türen für Turbulenzen und Verletzungen jeglicher Art eine geraume Zeit offen – unsere schöne und komplizierte Seele riskiert anhaltende Traumata durch Wunden, die uns schon zugefügt werden, bevor wir überhaupt laufen konnten.

Mir ist heute während einer Therapiestunde einmal wieder vor Augen geführt worden, was ich schon wusste, aber nicht wahrhaben will – nämlich das, dass ich in meinen frühen Jahren Erlebnisse hatte, die mich geschockt haben. Um da rauszukommen, muss ich erforschen was das war. Doch wenn jegliche Erinnerung verschüttet ist und das Schutt wegräumen aus Angst, etwas zu entdecken, was ich nicht sehen will, nicht gemacht wird, dann wird’s schwierig …

Kuddelmuddel

Mit zunehmendem Alter

Mit zunehmendem Alter und abnehmendem Verstand
Lösen sich oft die festen Bande,
Lockern sich manches strenges Tabu,
Wird mancher Engel zum schnaubenden Rächer,
Werden die Schwächen stärker und die Stärken schwächer,
Und das Lieblingswort lautet: „Wozu?“

Mascha Kaléko

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Mit zunehmendem Alter habe ich noch genug Verstand, dass ich der jungen Radfahrerin, die bei einstelligen Temperaturen nur ein Top trug und rasant unterwegs war und die mich Fußgängerin beinahe über den Haufen gefahren hat – also ich hatte noch genug Verstand, sie aufzufangen. Im wahrsten und im übertragenem Sinne des Wortes. Sie war völlig durch den Wind – aufgelöst und schrecklich konfus. Sie erzählte, dass sich ihr Freund von ihr getrennt habe und sie das aus der Bahn geworfen hat. Ich brachte sie nach Hause und ihre Mutter nahm sie in den Arm und ich fand deren Reaktion wunderbar. Ob sie anschließend mit der Tochter gesprochen hat – hoffentlich!

Kuddelmuddel

Wer vom Ziel nicht weiß

Wer vom Ziel nicht weiß,
kann den Weg nicht haben,
wird im selben Kreis
all sein Leben traben;

kommt am Ende hin,
wo er hergerückt,
hat der Menge Sinn
nur noch mehr zerstückt.
Wer vom Ziel nichts kennt,

kann’s doch heut erfahren;
wenn es ihn nur brennt
nach dem Göttlich-Wahren;
wenn in Eitelkeit
er nicht ganz versunken

und vom Wein der Zeit
nicht bis oben trunken.
Denn zu fragen ist
nach den stillen Dingen,
und zu wagen ist,

will man Licht erringen;
wer nicht suchen kann,
wie nur je ein Freier,
bleibt im Trugesbann
siebenfacher Schleier.

© Christian Morgenstern