Welch hoffnungsvoller Ausdruck, die Zeit heilt Wunden. Zwei Worte, die so gar nicht in meinem Kopf zusammen wollen: Zeit und Wunden. Was ist Zeit? Ist Zeit ein Tag, eine Woche, ein Monat, ein Jahr? Oder ist Zeit ein Lebensabschnitt, die Kindheit, die Jugend, das Erwachsenenalter, der Tod? Frühjahr, Sommer, Herbst und Winter? Was sind Wunden? Ein eingerissener Fingernagel, eine große Beule, eine Platzwunde, ein Beinbruch, ein Herzinfarkt, eine Vergewaltigung, der Verlust eines geliebten Menschen?
Mit drei bin ich vom Hochbett geflogen. Plumps! Auf die Schulter – Schlüsselbeinbruch ist nicht einzugipsen. Ich bekam einen Rucksackverband, einen Milchreis von meiner Oma und gut war’s.
Mit sechseinhalb bin ich über einen großen ledernen Medizinball gestolpert! Mein Schienbein war gebrochen. Ich bekam einen vorläufigen Gips und kurze Zeit später einen Gehgips, auf den mein Vater mir einen Osterhasen gemalt hat. Es wurde Pfingsten, der Hase und der Gips war weg.
Mit zwölf brach ich mir die Nase – eine Katastrophe, ich sah furchtbar aus. Auch das heilte.
Mit zwanzig gebar ich den Kerle. Er ist behindert, aber auch das war kein weiterer Beinbruch. Fünf Jahre und zwei Tage später kam das Töchting zu Welt. Auch sie ist behindert. Kein Thema.
Mit achtundzwanzig starb meine Oma. Es ist so lange her, und es ist immer noch ein Thema. Mein Vater starb als ich schon längst nicht mehr in der alten Heimat wohnte. Ich vermisse ihn. Dann starb plötzlich mein Mann. Eine große Wunde entstand.
Ich habe Hoffnung, denn Zeit heilt Wunden.
Aber heilt die Zeit auch den Schmerz, der mit der Wunde verbunden ist? Bleibt nicht eine Narbe zurück, eine unübersehbare Kerbe in unserer Seele?
Der Mensch braucht die Wunden, die Narben, den Schmerz. Genauso wie Liebe und Geborgenheit. Der Mensch wird geprägt durch seine Wunden. Das Kind, das sich verbrennt, weiß, dass das Feuer heiß ist. Die ersten Raufereien zeigen, es gibt Stärkere. Der erste Liebeskummer vergeht, wenn der nächste kommt. Und der Tod eines geliebten Menschen lässt einen erkennen, es geht nicht ewig weiter.
Wunden heilen, werden geheilt, aber die Narbe, der Schmerz bleibt. Und das ist gut so, denn sie helfen uns, nicht zu vergessen.
Und so bin ich heute froh, dass der Schmerz über den Verlust der geliebten Menschen anhält, und ich bin froh, dass die Zeit nicht alle Wunden heilt.
C Stern sagt:
Wie tief und schön Du meine eigenen Erfahrungen und Gedanken zu dem von Dir Erlebten hier ausgeführt hast! Mich sehr, sehr bewegend – Herz, Seele und Narben, sie sind spürbar! Danke!
piri sagt:
Kannst du auch nicht schlafen? Ich danke dir für deinen Nachtkommentar.
C Stern sagt:
Mir geht vieles durch den Kopf und es gibt auch Nachbarn, die von Nachtruhe nicht allzuviel halten. Nicht zum ersten Mal. Furchtbar rücksichtslos!
gedankenmusik sagt:
Eine wunderbare Erklärung, was Schmerz, Wunden und Zeit miteinander verbindet und auch unterscheidet. Vielen Dank für den feinfühligen Text, der mich berührt hat.
LG Heike
quersatzein sagt:
Wie viele Wunden du ertragen musst, liebe Piri! Unglaublich!
Dein fast schon philosophischer Text berührt auch mich sehr tief. Ich weiss nicht, wie ich mit diesen gehäuften Schicksalsschlägen umgehen könnte. Ich finde, du machst das meisterlich, einfach grossartig. Und ich wünsche dir weiterhin die Energie, Kraft und Kreativität, die es dafür in hohem Masse braucht.
Einen lieben Morgengruss,
Brigitte
momfilou.wordpress.com sagt:
Da kann ich meinen Vor-Kommentatoren nur von Herzen beipflichten!
Wenn ich deine Antworten auf meine Kommentare finde, dann lese ich sie auch. Welche habe ich denn nicht gesehen?
piri sagt:
Tut mir leid, dass ich das dann falsch gelesen habe!
M. - K. sagt:
Als ich die Überschrift las, war ich nicht sicher, ob ich das auch so sehe.
Dann las ich Deinen Text.
Deine Gedanken und der Schmerz, den Du beschreibst, die Lebensereignisse sowie die Abschiede nahmen mich mit auf meine eigene Gedankenreise.
Was habe ich erlebt, welche Abschiede waren für mich schlimm, sind sie es zum Teil heute noch oder hat da die Zeit Wunden geheilt?
Ja, die Narben, sie bleiben und machen uns aus. Zeigen, wenn wir sie bereit sind, sichtbar zu machen, was wir erlebt haben, womit wir zurecht gekommen sind, was wir ausgehalten haben und wie uns dies geformt hat, unseren eigenen Umgang damit zu finden.
Ja, und zum Ende hin, macht die Überschrift für mich auch Sinn. Die Zeit heilt viel, aber nicht so, als ob nie etwas gewesen wäre. Und manches, das vermag vielleicht nie zu heilen.
piri sagt:
Ja, manchmal ist es so, dass vordergründig etwas ganz anders aussieht, als es hintergründig ist! ;)
christine b sagt:
wie schön hast du das geschrieben! wie traurig, dass dich das alles ereilt hat, ich hätte es dir so gerne leichter gewünscht!
piri sagt:
Leben eben