Behinderung

Verträumt, verhuscht

Auf diesem Bild habe ich meinen Sohn auf dem Schoß. Er war damals 2 Jahre alt und ich demnach 22. Keine Ahnung, was ich gedacht habe – aber eigentlich ist es ein typisches Bild für mich. Ich war meistens ganz woanders. Der Welt entflohen, nur meinem Kind sehr nah – fast immer in irgendeinem Krankenhaus. Auch dies Foto ist in einem Krankenhaus aufgenommen worden. In Debstedt, in einer orthopädischen Klinik. Dort war Frau Rosenbaum, weil ich nicht bei Carsten bleiben konnte. Frau Rosenbaum war wunderbar. Eine einfache Frau mit viel Witz und Verstand. Eine Frau, die Carstens Vorliebe für besondere Worte erkannt hat und die mit ihm gespielt hat, während er im Streckverband lag.

Ach, wäre ich damals nur ein bisschen weniger verhuscht gewesen. Aber ich war mitten in meiner zweiten Ausbildung und durfte nicht fehlen. Nicht auffallen, war meistens konform – oh nein, es war die Zeit von Cattenom, Wyhl, Gorleben und meine politische Hochzeit – aber innerhalb der Familie war ich die brave, die bemitleidenswerte, die mit dem behinderten Kind. Keiner konnte meinen Widerstand gegen die Atomlobby verstehen und Unterstützung hatte ich null, null! Ich habe meine Aktivitäten verschoben – habe mich im Kindergarten engagiert, wurde Elternsprecherin und habe, so glaube ich, einiges in der Behindertenarbeit angestoßen. Was ich in meiner Ursprungsfamilie nicht erreicht habe, nämlich Anerkennung zu bekommen, gesehen zu werden, das habe ich mir außerhalb geholt.

Bis Wiebke geboren wurde, MamS nach seinen Lehren, den Meisterbrief machte, er seine Karriere forcierte, wir umgezogen sind und ich mehr und mehr nur für meine behinderten Kinder lebte und zunehmend vereinsamte.

 

Veröffentlicht von piri

In Momenten, in denen ich an mir und meiner Arbeit zweifle und meine, nichts Gutes auf die Reihe zu bekommen, denke ich daran, mir kurz das, was ich schon geschafft habe, anzuschauen. Dann geht's wieder. ☀️ ❤️ Viel lieber als Likes, sind mir Kommentare herzlich willkommen.

8 Gedanken zu „Verträumt, verhuscht“

  1. B sagt:

    Das ist ein sehr schönes Foto von Dir. Besonders Dein leicht angedeutetes Lächeln gefällt mir. Man kann Deine Durchsetzungsfähigkeit erkennen.

    1. piri ulbrich sagt:

      Oh ja, gekämpft/erstritten habe ich immer.

  2. gerda kazakou sagt:

    danke für diesen schönen Einblick in deine jungen Jahre. Wunderbar ist dieser Blick, und ich glaube, du hast ihn immer noch ein wenig.

    1. piri ulbrich sagt:

      Ja, ganz versteckt und verschüttet.

  3. Wechselweib sagt:

    Ach ja, immer/meistens/oft bleiben die Frauen bei den Kindern, ob behindert oder nicht, und vereinsamen…
    War das bei euch von Anfang an klar, dass du dich kümmerst?
    Vor der ersten Schwangerschaft hatten wir geplant, der Vater bleibt zu Hause, weil ich mehr verdient habe. Aber schon in der Schwangerschaft merkte ich, ich kann das nicht. Dann haben wir uns es geteilt…

    1. piri ulbrich sagt:

      Ja, es war klar – weil mein Mann Karriere machen wollte. Damals stand das auch gar nicht zur Debatte. Erstens war ich nur Schriftsetzerin, mein Mann Schweizer Degen (Schriftsetzer und Drucker, später dann mit Meisterbrief) und meine Ausbildung als Erzieherin war auch nur deswegen, weil ich nicht Lehrerin geworden bin, was mein Vater wahrscheinlich gern gesehen hätte.

  4. Paula sagt:

    Verträumt schon, aber das Verhuschte kann ich nicht erkennen. Mit 22 ist jede noch sehr jung, ich war da noch ein Kind!

  5. alicemakeachoice sagt:

    Ich mag dein Foto auch, erinnert mich an eine liebe Klassenkameradin. Ich sehe weniger das Verhuschte, ich sehe das Starke in deinem Blick. Es hätte Vieles anders laufen können. Das anzunehmen und das Beste rauszuholen, ist etwas, an dem andere gescheitert wären.
    Ganz liebe Grüße
    Alice

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