„OK. Sie sind Pazifistin. Was würden Sie tun, wenn jemand, sagen wir mal, über Ihre Großmutter herfallen würde?“
„Über meine arme alte Großmutter?“
„Yeah. Sie sind mit Ihrer Großmutter in einem Zimmer, und da ist dieser Typ und fällt über sie her, und Sie stehen dabei. Was würden Sie tun?“
„Ich würde‚ Großmutter, hipp, hipp, hurra!‘ brüllen und das Zimmer verlassen.“
„Nein, im Ernst. Nehmen wir mal an, er hätte eine Pistole und würde auf sie schießen. Würden Sie ihn zuerst erschießen?“
„Hab ich eine Pistole?“
„Ja.“
„Nein, ich bin Pazifistin, ich habe keine Pistole.“
„Nehmen wir an, Sie haben eine.“
„All right. Bin ich ein guter Schütze?“
„Dann schieße ich die Pistole aus seiner Hand.“
„Nein, Sie sind doch kein guter Schütze.“
„Ich hätte auch Angst zu schießen. Ich könnte ja Großmutter treffen.“
„Ach was. OK, gebongt, nehmen wir ein anderes Beispiel. Sagen wir, Sie fahren einen Lastwagen. Sie befinden sich auf einer engen Straße, und auf einer Seite ist ein steiler Abhang. Mitten auf der Straße steht ein kleines Mädchen. Sie haben zuviel Tempo drauf, um zu stoppen. Was würden Sie tun?“
„Ich weiß nicht. Was würden Sie denn tun?“
„Ich frage Sie. Sie sind die Pazifistin.“
„Ja, ich weiß. All right, hab ich den Lastwagen unter Kontrolle?“
„Ja.“
„Was ist denn, wenn ich auf die Hupe drücke, damit sie aus dem Weg gehen kann?“
„Sie ist zu klein, um zu laufen. Und die Hupe ist kaputt.“
„Ich fahre links um sie herum, weil sie ja doch nicht laufen kann.“
„Nein, das geht nicht, da war ein Erdrutsch.“
„Oh. Wenn denn. Ich fahre über die Klippe und rette das kleine Mädchen.“
Schweigen.
„Well, nehmen wir an, im Lastwagen ist noch jemand. Was dann?“
„Was hat denn meine Entscheidung damit zu tun, dass ich Pazifistin bin?“
„Im Lastwagen sind zwei, und es gibt nur ein kleines Mädchen.“
„Jemand hat mal gesagt: Wenn du die Wahl hast zwischen einem tatsächlichen Übel und einem hypothetischen Übel, entscheide dich immer für das hypothetische.“
„Hä?“
„Ich sagte, warum möchten Sie denn unbedingt alle Pazifisten umbringen?“
„Will ich doch gar nicht. Ich will nur wissen, was Sie tun würden, wenn -„
„Wenn ich, zusammen mit einem Freund, in einem Lastwagen auf einer einspurigen Landstraße dahinbrausen und mich mit hoher Geschwindigkeit einer höchst gefährlichen Stelle nähern würde, wo ein zehn Monate altes Mädchen mitten auf der Straße hockt, links von ihr ein Erdloch und rechts eine steile Klippe.“
„Genau.“
„Ich würde wahrscheinlich voll auf die Bremse steigen. Dabei würde mein Freund durch die vordere Windschutzscheibe krachen, der Lastwagen würde durch das Erdloch schlingern, das Mädchen überfahren, über die Klippe segeln und mich in den Tod reißen. Natürlich wäre Großmutters Haus am Fuß der Schlucht, und der Laster würde durch ihr Dach krachen und in ihrem Wohnzimmer explodieren, wo gerade zum ersten und letzten Mal in ihrem Leben jemand über sie herfallen würde …“
„Sie haben meine Frage nicht beantwortet. Sie weichen mir nur aus …“
„Ich versuche nur, ein paar Dinge klarzustellen. Das eine ist, dass niemand weiß, wie er im Augenblick einer Krise reagieren wird. Und auf hypothetische Fragen bekommt man hypothetische Antworten. Außerdem habe ich auf sehr subtile Art und Weise sagen wollen, dass Sie mir eine Situation aufgetischt haben, aus der ich gar nicht herauskommen kann, ohne einen oder mehrere Menschen zu töten. Darauf sagen Sie dann: ,Pazifismus ist eine nette Idee, aber er funktioniert nicht.‘ Aber das ist es gar nicht, was mich kratzt.“
„Was kratzt Sie denn?“
„Well, Sie mögen es vielleicht nicht hören wollen, weil es keine Hypothese ist, sondern Realität. Und verglichen damit, nimmt sich der Angriff auf Großmutter wie eine Gartenparty aus.“
„So?“
„Ich denke nämlich daran, wie man bei uns Menschen beibringt, auf eine richtig gute, effiziente Art zu killen. Nicht so läppische Sachen wie Lastwagen oder Erdrutsche… Genau das Gegenteil, wissen Sie: Durch den Dschungel robben, mit Geheul auf den Gegner, killen, aus Flugzeugen abspringen… Die richtig organisierte Sache. Wissen Sie, bei der man Großmutter mit einem Bajonett die Eingeweide aufschlitzt.“
„Das ist doch etwas völlig anderes.“
„Sicher. Und sehen Sie denn nicht, dass es viel schwieriger ist, darüber zu reden, weil es sich in diesem Augenblick ganz real abspielt? Hören Sie doch mal zu. Da steckt ein General mit einem Fähnchen einen Punkt auf der Landkarte ab. Und eine Woche später baden ein paar junge Männer es irgendwo im Dschungel aus, schieben sich gegenseig die Eier ab, heulen und beten und machen sich in die Hose… Kommt Ihnen das nicht
entsetzlich dumm vor?*
„Well, Sie sprechen jetzt vom Krieg.“
„Ja, ich weiß. Kommt er ihnen nicht entsetzlich dumm vor?“
„Was wollen Sie denn statt dessen machen? Die andere Backe hinhalten, wie?“
„Nein. Liebe deinen Feind, aber tritt seinem Übel entgegen. Liebe deinen Feind. Du sollst nicht töten.*
„Ja, und sehen Sie doch, was aus ihm wurde.“
„Er machte sich.“
„An ein gottverdammtes Kreuz ist er genagelt worden, das wurde aus ihm. Ich will an kein gottverdammtes Kreuz genagelt werden.“
„Werden Sie auch nicht.“
„Hä?“
„Ich sagte, Sie können nicht wählen, wie Sie sterben werden. Oder wann. Sie können nur bestimmen, wie Sie leben wollen. Jetzt.“
„Well, ich werde jedenfalls nicht jeden x-beliebigen auf mir herumtrampeln lassen, das steht mal fest.“
„Jesus sagte: , Wehre dich nicht gegen das Böse.‘ Der Pazifist sagt genau das Gegenteil. Er sagt, wehre dich mit ganzem Herzen und deinem ganzen Verstand und deinem Leib gegen das Böse, bis es überwunden ist.“
„Blick ich nicht durch.“
„Organisierter gewaltloser Widerstand. Gandhi. Er hat die Inder in gewaltlosem Widerstand organisiert und einen gewaltlosen Kampf gegen die Briten geführt, bis er Indien vom britischen Empire befreit hatte. Für den Anfang nicht schlecht, was meinen Sie?“
„Yeah, kann ja sein, aber er hatte es mit den Briten zu tun, einem zivilisierten Volk. Wir nicht.“
„Wir sind kein zivilisiertes Volk?“
„Wir haben es nicht mit einem zivilisierten Volk zu tun. Versuchen Sie es mal bei den Russen damit.“
„Sie meinen die Chinesen, oder?“
„Yeah, die Chinesen. Versuchen Sie es mal bei den Chinesen.“
„Ach je. Den Krieg gab es schon lange, bevor irgend jemand sich den Kommunismus ausgedacht hat. Der ist doch nur die neueste Rechtfertigung für Selbstgerechtigkeit. Das Problem ist nicht der Kommunismus. Das Problem ist der Consensus. Es gibt einen Consensus, dass es in Ordnung geht, zu töten, wenn deine Regierung bestimmt, wen du tötest. Wenn du bei dir zu Hause jemand umlegst, geht es dir an den Kragen. Wenn du in der Fremde jemand umlegst, vorausgesetzt, es ist die richtige Zeit und der richtige Feind, kriegst du einen Orden. Es gibt ungefähr 130 Nationalstaaten, und jeder denkt, dass es völlig in Ordnung geht, alle anderen abzuservieren, weil jeder sich für den Größten hält. Der Pazifist hält dagegen, dass es nur einen Stamm gibt. Drei Milliarden Stammesmitglieder. Deren Leben geht vor. Wir glauben, dass es eine Dummheit ist, irgendeinen Angehörigen dieser großen Familie umzulegen. Wir glauben, dass wir unsere Differenzen auf anständigere und intelligentere Art beilegen können. Und diese anderen Möglichkeiten sollte man schleunigst auschecken, sonst löscht sich – absichtlich oder nicht — die Menschheit noch selbst aus.“
„Töten liegt in der Natur des Menschen.“
„Wirklich?“
„Das ist angeboren. Etwas, das Sie nicht ändern können.“
„Wenn es so natürlich ist, zu töten, warum müssen Soldaten es erst trainieren? Sicher liegt die Gewalt in der Natur des Menschen, aber Anstand, Liebe und Freundlichkeit auch. Der Mensch organisiert die Gewalt und handelt mit ihr. Der Gewaltlose will das Gegenteil organisieren. Organisierte Liebe — das ist Gewaltlosigkeit.“
„Sie sind ja verrückt.“
„Zweifellos, Wollen Sie mir weismachen, der Rest der Menschheit sei vernünfig? Wollen Sie mir vielleicht sagen, dass die Gewalt in den letzten 5000 Jahren ein großer Erfolg war? Dass die Welt in hervorragender Verfassung ist, dass die Kriege uns Frieden, Verständigung, Brüderlichkeit, Demokratie und Freiheit gebracht haben? Dass das Töten eine Atmosphäre des guten Willens und der Hoffnung geschaffen hat? Und dass es eine feine Sache ist, wenn eine Milliarde Menschen auf Kosten der anderen zwei Milliarden leben, oder dass, selbst wenn es bisher nicht immer ganz glatt abging, wir nun doch endlich das Licht einer besseren Welt am Ende des Tunnels erblicken, sobald wir noch ein paar kleinere Kriege aufs Parkett gelegt haben?“
„Mir geht es gut.“
„Betrachten Sie das als einen glücklichen Zufall.“
„Ich glaube daran, dass ich Amerika und alles, wofür es steht, verteidigen soll. Halten Sie nichts von Selbstverteidigung?“
„Nein, so fing die Mafia auch mal an. Eine kleine Schar von Leuten, die sich zusammentaten, um die Bauern zu beschützen. Da ist mir Gandhis gewaltloser Widerstand lieber.“
„Mir ist der springende Punkt bei der Gewaltlosigkeit immer noch nicht klar.“
„Der springende Punkt bei der Gewaltlosigkeit ist, einen Boden, einen neuen, festen Boden zu errichten, durch den wir nicht mehr sinken können. Eine Plattform, die ein bisschen über das Napalm, die Folter, die Ausbeutung, das Giftgas, die A- und H-Bombe und den ganzen Plunder herausragt. Gib dem Menschen einen anständigen Platz, auf dem er stehen kann. Er hat sich zu lange in menschlichem Blut und Kotze und verbranntem Fleisch gesuhlt und geschrien, wie das der Welt den Frieden bringen wird. Nun steckt er einen Moment lang den Kopf aus dem Loch und sieht ein paar komische Leute, die Materialien zusammentragen und versuchen, ein Gebilde über dem Boden, in der frischen Luft, zu bauen. ‚Hübsche Idee, aber nicht sehr praktisch!‘ brüllt er und verkriecht sich wieder in seinem Loch. Dasselbe geschah, als der Mensch herausfand, dass die Erde rund ist. Er hatte jeden Beweis dafür, dass sie nicht flach war, aber er kämpfte jahrelang dagegen an. Aber sie hatte nun mal keinen Rand, von dem er abstürzen konnte, und keine Seeungeheuer, die sein kleines Schiff in ihrem aufgesperrten Rachen verschlangen.“
„Wie wollen Sie dieses praktische Gebilde denn errichten?“
„Vom Boden aus. Dadurch, dass wir jede nur denkbare Alternative zur Gewalt auf jeder Ebene studieren, ausprobieren und mit ihr experimentieren. Dadurch, dass wir zum Nationalstaat nein sagen, nein zu Kriegssteuern. ‚Nein‘ zur Wehrpflicht, ‚Nein‘ zum Töten im allgemeinen, ‚Ja‘ zur Gemeinschaft der Menschen. Dadurch, dass wir neue Instituionen gründen, die auf der Voraussetzung basieren, dass der Mord in jeder Form abgelehnt wird. Durch Kontakte mit gewallosen Gruppen in der ganzen Welt. Durch persönliches Engagement im Dialog mit einzelnen und Gruppen, um zu versuchen, den Consensus zu ändern, der sagt, dass Töten in Ordnung ist.“
„Das klingt ja alles gut und schön, aber ich glaube nicht, dass es machbar ist.“
„Wahrscheinlich haben Sie recht. Wahrscheinlich haben wir nicht genug Zeit. Bis jetzt haben wir glorreich versagt. Die einzigen Leute, die noch größeren Mist gebaut haben als die, die die Gewaltlosigkeit organisieren, sind die, die die Gewalt organisieren.“
Joan Baez (Anfang der 80er Jahre) – übersetzt von Jörg Fauser.
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Ich habe mir die Mühe gemacht diesen Text abzuschreiben, weil ich ihn im www. nicht gefunden habe. Er ist aktuell, wie eh und je! Gefunden habe ich ihn im Buch: Wir leben nicht allein – ein Geschenkbuch zur Konfirmation aus dem Jahr 1981. Dieser Text begleitet mich schon seit Jahren.