Behinderung, Gedanken, Kuddelmuddel

Kopf sagt: Ja – Bauch sagt: Nein

Oder ist es umgekehrt? Der Kopf sagt, dass ich mich mehr zeigen, unter Menschen gehen soll. Der Bauch mit der Soziophobie sagt dazu entschieden Nein. Ich kann es nicht! Ich habe es heute morgen wieder versucht und bin gescheitert. Nicht auf der ganzen Linie. Aber den Schein zu wahren, die Fassade aufzubauen, die Maske vor fremden Menschen zu halten – das kostet Energie. Was hatte ich für eine Wahl? Einzig und allein die Option, dass ich den Gang zum Bürgerbüro verschiebe! Aber früher oder später hätte ich hingehen und den Personalausweis von Wiebke abholen müssen. Als taffe tapfere Frau mache ich das doch zwischen Baum und Borke. So sieht es aus! So selbstbewusst, so ganz starke Mutter zweier behinderter Kinder.

Einen Ausweis abholen, das kann doch jedes Kind – ich habe es ja auch gekonnt!

…und dann bin ich einkaufen gefahren! Nicht im Lebensmittelladen gleich neben dem Rathaus – nein, in den übernächsten Einkaufsmarkt, weil ich, aus dem Augenwinkel sah, dass eine Frau den Laden betrat und ich ihr nicht begegnen wollte. Da nahm ich doch lieber einen großen Umweg in Kauf, weil ich nicht mit der Bekannten reden wollte. Ich möchte über ein bestimmtes Thema nicht reden – da nehme ich lieber Reißaus, als mich dem zu stellen. Auch ein Asperger Thema! Manchmal kann ich mich dem stellen, aber wenn ich übervoll bin, dann passt nichts mehr rein, dann gehe ich den Weg des geringsten Widerstands und ziehe den imaginären Schwanz ein.

Je mehr ich ausweiche, je mehr ich mich verkrieche, umso mehr sehne ich mich nach Menschen. Völlig ambivalent und überhaupt nicht logisch. Kontraproduktiv und mir selbst im Raum stehend. Da weiß mein Kopf, dass ich präsent sein soll, einfach da sein, mich zeigen soll – und mein Bauch sucht unsicher das nächste, noch so kleine Loch, mich drin zu verkriechen.

Behinderung, Musik

Viel zu heiß

Bei uns gibt es heute Hitzefrei! Ich lasse die Junioren schlafen. Sage alle Termine ab und habe dennoch ein schlechtes Gewissen, weil ich gerne mit Beiden ans Wasser gehen möchte, aber keine geeignete Helferin habe.

Dieses Helferthema ist ein Horrorthema! Habe ich nicht auch noch andere Baustellen? Ich wünsche mir einen großen Baum, der Schatten wirft, liebe Menschen, die uns/mich nicht bevormunden und Zufriedenheit allerseits. Ich weiß, das ist utopisch – aber träumen darf man doch. Oder?

Behinderung, Junioren

Ausatmen – einatmen

…oder ist es umgekehrt? Erst einatmen und dann ausatmen? Momentan scheint mir das wirklich alles egal zu sein, Hauptsache atmen – irgendwie. Leben, eben!

„Es reicht. Jetzt reichts.“ Das soll ich mir sagen, sagt meine Psychologin. Zuerst soll ich es mir sagen. Zuallererst mir. „Denn Sie machen schon genug! Sie müssen nicht immer mit Volldampf fahren, müssen nicht immer 150% geben, 90% reichen auch!“ Ich glaube es nicht! Kann es nicht glauben – aber ich muss, sonst ist es irgendwann einmal vorbei mit dem Überlegen ein- oder auszuatmen!

Die Junioren sind in die Werkstatt gefahren. Beide! Auch Carsten und er geht gerne, er freut sich auf die Kumpel und seine Arbeitskolleggen. Ja, er freut sich auf die Arbeit – nur aufs Essen dort freut er sich nicht. Er muss dann essen, wenn alle essen und meistens essen alle anderen sehr viel schneller, als er und dann hat er schon keinen Appetit mehr. Wenn dann auch noch Druck von den Betreuern kommt und insistiert wird: „Carsten trink, Carsten iss!“, dann hat er keine Lust. Am besten wäre es, dass er griffbereit kleine Snacks stehen hätte und die er nach seinem Gusto essen könnte, wann er mag und kann. Da sind allerdings die anderen behinderten Mitarbeiter im Weg. Sie essen ihm das Essen weg! Sie sind behindert, sie nehmen, was sie kriegen können. Manche sind eh schon zu dick und sind auf Diät. Da sind kleine Snacks, die griffbereit stehen, ein willkommenes Futter – im wahrsten Sinne des Wortes!  … und Carsten ist manchmal sogar froh, dass das ungeliebte Essen verschwunden ist!

Einatmen – ausatmen. Zuhause ist es nicht anders. Wiebke isst Carsten – damit er nicht essen muss – die Banane auf. Nur, ich habe es unter Kontrolle, kann einen bzw. zwei Menschen beobachten und gegebenenfalls einschreiten. In der Werkstatt, im Förder- und Betreuungsbereich ist das nicht möglich. Außerdem sind Menschen, die ständig Hunger haben sehr erfinderisch, wenn es um Essenbeschaffung geht. Bonbons und Kekse sind schon lange nicht mehr in den Rucksäcken der Junioren. Allenfalls das Einwickelpapier bleibt drin.

Mir scheint, es gibt gerade einhundertdreiunddrölfzigtausend Baustellen. Nicht nur die, auf der keine hundert Meter von uns ein großes Lebensmittelgeschäft gebaut wird. Oder die, wo die elektrischen Oberleitungen vor unserer Haustür unter die Erde gelegt werden. Oder die, wo am Eck der Straße – hundert Meter in die andere Richtung – ein Winzer ein Restaurant mit Pension baut. Nein, auch auf dem Grundstück ums Haus herum ist alles aufgerissen. Ich weiß noch nicht, wie die Rollstühle da vorbei kommen können? Es muss ein Mäuerchen (!) und Natursteinstelen gesetzt werden. Dafür müssen aber die alten Palisaden raus, und diese sind einbetoniert! Unsere Terrasse werden wir für die nächsten drei Wochen wohl nicht nutzen können! Einatmen – ausatmen. Alles gut! Mein schöner Garten war einmal. Wildfremde Kerle trampeln durch mein Heim und wollen aufs Klo – und das mir, die sich eigentlich gerne zurückzieht und nun keinen Ort dazu mehr hat.

Es ist Sommer und alles wird gut und wenn es noch nicht gut ist, dann ist es noch nicht zu Ende!