Behinderung

alt sein – alt fühlen

Carsten hat gestern einen Nerv getroffen. Einen Nerven, der schon länger blank liegt. Je älter ich werde, umso mehr schlaucht mich Außergewöhnliches. Sicherlich kein Wunder, denn die Kräfte schwinden, sie lassen nach. Morgens betrachte ich mein Gesicht und kann die Falten nicht zählen – es sind zu viele. Die Falten an sich stören mich nicht. Das Grau und die Augenschatten sind es, die mich gruseln lassen. Da hilft kaltes Wasser nur bedingt. Auch wenn ich wach bin und meine morgendliche Aufgabe zügig, lachend und aufmunternd erledige – weil am Montagmorgen beide Junioren so gar keine Lust haben – packe ich meine Arbeit an und das tue ich gerne. In dem Moment, in dem ich sie mache, läuft es auch. Wir sind ein eingespieltes Team. Ich kann vorhersagen, wann sie zetern, weiß, dass Wiebke keine Schuhe anziehen will, sehe Carsten dabei zu, wenn er im Schneckentempo seine Cola austrinkt. So langsam kommt die Zeit der Jacken und Mützen. Die Junioren mögen beides nicht. Jacken nicht, weil sie meistens so steif sind, dass sie sich noch schlechter bewegen können und Mützen aus Prinzip nicht. 

Wenn sie endlich aus dem Haus sind, war ich früher schon fertig. Heutzutage bin ich brotfertig und würde mich am liebsten wieder ins Bett legen. Geht nicht! Carsten hat ohne Windel geschlafen und Wiebke hat Saft im Bett ausgeschüttet…

… aber erst einmal male ich mir junge Augen an!

Klimt hat eine wunderbare Zeichnung einer alten Frau.

Alltag, Behinderung

Miniabriss | mit Fortsetzung

Wiebke will im Bett frühstücken. Es ist Sonntagmorgen und somit ist das okay für mich. Sie bekommt ihren Kakao und ein paar Kekse, denn eigentlich ist das Töchting ein Frühstücksmuffel.
Carsten will nicht, aber muss. Wenn man ihn fragt, will er immer nicht. Geschickt ist es, ihm die Astronautenkost im Bett hinzuhalten, damit er nur trinken muss. So haben wir das heute – gerade eben – auch gemacht. Ihr müsst euch das so vorstellen, dass ich neben dem Bett knie, das ca. 15 cm hoch ist* – vom Boden aus. Quasi hocke ich gekrümmt auf dem Teppich und halte ein Fläschchen hochkalorische klebrige Nahrung in der Hand, aus dem der Kerle hastig trinkt. Ich sage noch: „Mach langsam!“, da schießt es auch schon fontänenmäßig aus ihm heraus.

  • zum besseren Verständnis: der Kerle liegt nicht im Bett. Er sitzt in der Hocke aufrecht, denn liegend wäre es eine Quälerei.

Ich schreie
zittere
heule
fange an zu weinen!

Carsten kann nichts dafür. Er ist total bedröppelt. Aus Wiebkes Zimmer höre ich eine ängstliche Stimme. Aber ich kann grad nicht zu ihr. Da höre ich etwas durch die Gegend fliegen. Zum Glück nicht ihr Tablet. Zum Glück nur ein paar Schlümpfe und ihre Uhr.

Der Morgen beginnt mal wieder völlig unentspannt – es kann also nur besser werden!

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Nachtrag: übrigens hat Wiebke eine Stunde später ihren Kakao noch immer nicht ausgetrunken. Ich rede ihr jeden Schluck in den Mund. —> Fortsetzung

Behinderung

Dekubitusprophylaxe

Dieses Wort finde ich wunderbar. Carsten macht daraus immer wieder neue und hat, als er es das erste Mal hörte, es immer und immer wieder gesagt. Dekubitusprophylaxe! So lustig, wie das Wort klingt, ist es allerdings nicht.

Die Junioren haben verschiedene Stellen, bei denen ich aufpassen muss, dass sie nicht wund werden und die Haut aufplatzt. Carstens Knie sind so eine Baustelle und Wiebkes Fersen. Dort ist die Haut ständig gerötet und spannt, bei Carsten über der Kniescheibe und bei Wiebke reibt der Hacken im Schuh.

Für mich heißt das, pflegen, pflegen und noch mal pflegen. Aber auch erkennen, dass die Haut krank ist. Gerade hat Wiebke wieder eine stecknadelkopfgroße fast schwarze Stelle am linken Fuß. Sie lässt mich nicht ran. Es tut weh. Umso sorgsamer muss ich nun vorgehen. Ihr die Angst nehmen, dass ich ihr nicht noch mehr wehtue und die sich bildende Wunde versorgen. Mein Töchting zetert, zappelt, schreit und will selber. Will selber die Stelle eincremen und schützen. Ich lasse sie – aber ich creme nach, schaue, dass die Haut geschmeidig bleibt und werde mir etwas überlegen müssen, dass keine Reizungen auftreten können.

Carstens Knie habe ich in Griff. Er hockt auf einem Schaffell, seine knochigen Gelenke machen gerade keine großen Sorgen …

… aber um keine Sorgen brauche ich mir keine Sorgen zu machen – davon habe ich genug und auf eine mehr oder weniger kann ich gut verzichten!