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Tagträume

  … sind die bittersüßen Fähigkeiten, die Dinge so zu sehen, wie sie wären, wenn man statt zu fantasieren etwas unternehmen würde.

Meine Unternehmungen haben sich für heute erschöpft. Draußen ist es zwar sonnig, aber ich habe kein Auto und zu Fuß mag ich nicht laufen.  Mein linkes Sprunggelenk hat einmal wieder eine Schnappsehne, die über dem Knöchel hin- und herhüpft – das ist sehr schmerzhaft. Da mache ich mir lieber einen Tee, träume vom Maiurlaub und fremden Straßen! Will neu entdecken, wie es ist allein zu zweit ganz woanders zu sein…

Telefongebimmel schreckt mich auf. Da will mir jemand eine Zeitschrift verkaufen – vom Reisen und Fernweh! Als ob ich so etwas brauche?!

Fräulein Drost

Irgendwann musste ich ja auch mal zur Schule gehen – es war zwar nicht mein Hauptlebensziel, aber ich habe mich gefügt. Die Schule war alt, zugig und roch muffig, war am anderen Ende der Stadt  – so kam mir das jedenfalls vor – und ich kannte niemanden, der mit mir dort hinwollte.

Irgendwann in der ersten Klasse hat der Lehrer gefragt, wann wir Geburtstag haben und ob wir uns schon drauf freuen würden. Als ich dann sagte, dass ich mich sehr auf meinen zweiten Geburtstag freuen würde, wurde er komisch und zitierte mich nach vorne. Er meinte wohl, diesem ungebildeten Gör erklären zu müssen, dass der zweite Geburtstag doch schon längst vorbei wäre, denn ansonsten würde ich ja jetzt nicht hier stehen und zur Schule gehen. Von da an, war der Mann für mich unten durch!

Irgendwann in der zweiten Klasse wurde wieder nach dem schönsten Geschenk, das wir bei unserem letzten Geburtstag bekommen hatten, gefragt – ich konnte mich nicht erinnern!

Dann sind wir umgezogen und ich kam in eine neue Schule mit neuen Lehrern. Eine kleine überschaubare Schule, ganz nah bei unserem Haus. Und, ich war nicht mehr allein!

Fräulein Drost kam in mein Leben. Fräulein Drost, die wert darauf legte, dass sie ein Fräulein war. Ein Fräulein im fortgeschrittenen Alter – uralt dachte ich, wahrscheinlich so um die 45 Jahre, aber als Drittklässler sind alle Menschen über 30 Jahre uralt. Fräulein Drost war nett, Fräulein Drost hatte Humor, Fräulein Drost war auf einmal, nach meiner Oma, der beste Mensch der Welt. Außerdem fragte Fräulein Drost nie nach Geburtstagen, sie feierte sie einfach mit ihren Schülern. Und sie feierte ihn mit mir und mit… tja, jetzt weiß ich gar nicht mehr, wie die beiden Jungs hießen, die mit mir zusammen den besonderen zweiten Geburtstag feierten. Wir waren nämlich drei, die im Schaltjahr 1956 geboren wurden – und die einzigen in der Schule. Diese Schule war an diesem Tag geschmückt mit Allerlei, was der Fundus hergab. Papierblumen, die Exponate wurden rausgestellt, irgendwo saß eine ausgestopfte Eule, das saß ein Fuchs und in der Ecke lagen Eier, auf die sich eine Henne setzen wollte und nicht konnte, weil sie steif wie ein Brett war.

Ich erinnere mich nicht an die Geburtstagsfeier Zuhause, aber dieser Tag in der Schule, vorne sitzen, eingerahmt von zwei Jungs, den werde ich nie vergessen! Das alles nur wegen Fräulein Drost!

Montagmorgen

Die Sonne scheint. Kein Hagel, nur Verwirrung im Kopf.

 Carsten erinnert sich an die Leselehrerin und vermisst sie: „Du Mama, übst du mit mir lesen?“ Natürlich mache ich das, aber es stellt mich vor eine Aufgabe, von der ich dachte sie abgegeben zu haben. Was lesen wir? Was kann Carsten erfassen? Was sieht er? Sein Sehnerv ist geschädigt, er sieht partiell! Manch kleine Dinge sieht er und Sekunden später sind sie aus seinem Gesichtsfeld verschwunden. Dabei sind sie nicht einen Deut verrückt worden. Carsten hat ein Sehvermögen von 5 – 10%. Genau kann das niemand sagen, es ist kaum messbar. Dass er ein Fußballspiel am Fernseher beobachten kann, grenzt an Wunder. Ein ganzes Spiel strengt ihn unglaublich an.

Carsten hat einen grenzenlosen Ehrgeiz, er möchte wieder lesen üben. Versucht einmal zu lesen, wenn ihr nur Bruchteile eines Wortes sehen könnt, wenn ihr den Überblick verloren habt, wenn ihr das Wort als Ganzes nicht erfassen könnt! Verdammt schwer! Ich bewundere Carsten, dass er trotz, oder besser mit, seiner Sehschwäche nicht aufgibt. Ganze Bücher wird er nie lesen können, das ist viel zu aufwändig. Dabei hat er Interesse an guten Büchern. Die Bücher müssen seinem Intellekt entsprechen, aber nicht kindlich sein – einfache Sprache wäre gut. Doch zu einfach darf sie auch wieder nicht sein, denn der Kerle liebt Wörter – eines seiner ersten, als er sprechen lernte war Braunkohlenförderband. Das hat ihm Frau Rosenbaum beigebracht und der Papa: Lohnsteuerjahresausgleich. Sein allererstes Wort war: Auto, noch vor Mama und Papa und dann kamen die Bandwurmwörter. 

Also, es ist schwer adäquate Lektüre zu finden. Vorerst  werde ich mit ihm Überschriften aus der Tageszeitung lesen – wenn sie denn heute noch kommt! Wenn ich Kommentare bekomme, dann freue ich mich sehr – viel mehr noch, als über Likes!

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