Gedanken, Gedicht

Epitaph im Winter

die feigenblüten sind gegessen
ein wenig schnee mitte dezember
gegen vier uhr begräbt man ein kind
gelber himmel
das tierfell des bergs der nördlichen talseite

schlangengrau die feigenbaumrinde
für die reben hat morgantini
schon im herbst die pfeiler gesetzt
es wird kälter
sagt er im vorbeigehen           er kommt den paßweg
er sagt            mario hat nur sechs tage gelebt

Alfred Andersch

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Ich gebe zu, dieses Gedicht heute ist harter Tobak und dennoch hat es eine Poesie, die mich gefangen hat. Alfred Andersch ist sehr, sehr speziell. Mir ist in diesen kalten Wintertagen das morbide außerordentlich präsent. Ich träume vom Tod und den Toten – sie sind mir sehr nah. Viel zu nah. Es macht mir Angst. Es erinnert mich an meine eigene Vergänglichkeit.

Gedanken, Gedicht

wir wollen

Wir wollen
dass wir zufrieden sind
Unseren Frieden haben
keinen Streit
Ärger vermeiden

Wir wollen
glücklich sein
Dass unsere Träume
in Erfüllung gehen
Spaß

Wir wollen
aber nicht viel
oder besser gar nichts
dafür riskieren

Nennt man das jetzt
Willen oder was?

© piri ulbrich

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Ein Beitrag für Der Dienstag dichtet bei Katha kritzelt

Es ist Nacht, dunkel und kalt, ich kann nicht schlafen und mein Gedankenkarussell dreht sich im Kreis.

Gedicht

Knecht Ruprecht

Von drauß‘ vom Walde komm ich her,
Ich muß euch sagen, es weihnachtet sehr!
Allüberall auf den Tannenspitzen
Sah ich goldene Lichtlein sitzen.
Und droben aus dem Himmelstor
Sah mit großen Augen das Christkind hervor.
Und wie ich so strolcht‘ durch den dichten Tann,
Da rief’s mich mit heller Stimme an;
,Knecht Ruprecht‘, rief es, ,alter Gesell,
Hebe die Beine und spute dich schnell!
Die Kerzen fangen zu brennen an,
Das Himmelstor ist aufgetan,
Alt‘ und Junge sollen nun
Von der Jagd des Lebens einmal ruhn;
Und morgen flieg ich hinab zur Erden,
Denn es soll wieder Weihnachten werden!‘
Ich sprach: ,O, lieber Herre Christ,
Meine Reise fast zu Ende ist;
Ich soll nur noch in diese Stadt,
Wo’s eitel brave Kinder hat.‘
,Hast denn das Säcklein auch bei dir?‘
Ich sprach: ,Das Säcklein, das ist hier;
Denn Apfel, Nuß und Mandelkern
Fressen fromme Kinder gern!‘
,Hast denn die Rute auch bei dir?‘
Ich sprach: ,Die Rute, die ist hier!
Doch für die Kinder nur, die schlechten,
Die trifft sie auf den Teil, den rechten!‘
Christkindlein sprach: ,So ist es recht,
So geh mit Gott mein treuer Knecht!‘
Von drauß‘ vom Walde komm ich her;
Ich muß euch sagen, es weihnachtet sehr!
Nun sprecht, wie ich’s hierinnen find?
Sind’s gute Kind, sind’s böse Kind?

Theodor Storm