Gedicht

Nekrolog auf ein Jahr

Nun starb das Jahr.
Auch dieses ging daneben.
Längst trat es seinen Lebensabend an.
Es lohnt sich kaum, der Trauer hinzugeben,
Weil man sich ja ein neues leisten kann.

Man sah so manches Jahr vorüberfliegen,
Und der Kalender wurde langsam alt.
Das Glück gleicht eleganten Luxuszügen
Und wir der Kleinbahn ohne Aufenthalt.

Im Wintersportgebiet hat’s Schnee gegeben.
Wer Hunger hat, schwärmt selten für Natur.
Silvester kam. Und manches Innenleben
Bedarf jetzt fristgemäß der Inventur.

Wir gossen Blei und trieben Neujahrspossen.
(Minister formen meist den Vogel Strauß)
Was wir im letzten Jahr in Blei gegossen,
Das sah verdammt nach Pleitegeier aus.

Das Geld regiert.
Wer hat es nicht erfahren,
Dass Menschenliebe wenig Zinsen trägt.
Ein braver Mann kann höchstens Worte sparen. …
Wenn er die Silben hübsch beiseitelegt.

Die Freundschaft welkt im Rechnen mit Prozenten.
Bald siehst du ein, daß keiner helfen kann.
Du stehst allein. Und die dir helfen könnten,
Die sagen höchstens: „rufen Sie mal an!“

Nun starb ein Jahr.
– Man lästre nicht am Grabe!
Doch: Wenn das Leben einer Schule gleicht,
Dann war dies Jahr ein schwachbegabter Knabe
Und hat das Ziel der Klasse nicht erreicht.

Mascha Kaléko

Gedicht

Werte

Die guten Dinge des Lebens
sind alle kostenlos:
die Luft, das Wasser, die Liebe.
Wie machen wir das bloß,
das Leben fur teuer zu halten,
wenn die Hauptsachen kostenlos sind?
Das kommt vom frühen Erkalten.
Wir genossen nur damals als Kind
die Luft nach ihrem Werte
und Wasser als Lebensgewinn,
und Liebe, die unbegehrte,
nahmen wir herzleicht hin.
Nur selten noch atmen wir richtig
und atmen die Zeit mit ein,
wir leben eilig und wichtig
und trinken statt Wasser Wein.
Und aus der Liebe machen
wir eine Pflicht und Last.

Und das Leben kommt dem zu teuer,
der es zu billig auffasst.

Eva Strittmatter

Gedicht

Morgen Kinder

Morgen, Kinder, wird’s was geben,
Morgen werden wir uns freu’n!
Welch ein Jubel, welch ein Leben
Wird in unserm Hause sein!
Einmal werden wir noch wach,
Heißa, dann ist Weihnachtstag!

Wie wird dann die Stube glänzen
Von der großen Lichterzahl!
Schöner als bei frohen Tänzen,
Ein geputzter Kronensaal.
Wißt ihr noch, wie vor’ges Jahr
Es am Heil’gen Abend war?

(Wißt ihr noch mein Räderpferdchen,
Malchens nette Schäferin,
Jettchens Küche mit den Herden
Und dem blankgeputzten Zinn?
Heinrichs bunten Harlekin
Mit der gelben Violin?)

Wißt ihr noch die Spiele, Bücher
Und das schöne Hottepferd,
Schönste Kleider, woll’ne Tücher,
Puppenstube, Puppenherd?
Morgen strahlt der Kerzen Schein,
Morgen werden wir uns freun!

Welch ein schöner Tag ist morgen!
Vieler Freuden hoffen wir;
Uns’re lieben Eltern sorgen
Lange, lange schon dafür.
O gewiß, wer sie nicht ehrt,
Ist der ganzen Lust nicht wert!

Volkslied