Montagmorgen

Die Sonne scheint. Kein Hagel, nur Verwirrung im Kopf.

 Carsten erinnert sich an die Leselehrerin und vermisst sie: „Du Mama, übst du mit mir lesen?“ Natürlich mache ich das, aber es stellt mich vor eine Aufgabe, von der ich dachte sie abgegeben zu haben. Was lesen wir? Was kann Carsten erfassen? Was sieht er? Sein Sehnerv ist geschädigt, er sieht partiell! Manch kleine Dinge sieht er und Sekunden später sind sie aus seinem Gesichtsfeld verschwunden. Dabei sind sie nicht einen Deut verrückt worden. Carsten hat ein Sehvermögen von 5 – 10%. Genau kann das niemand sagen, es ist kaum messbar. Dass er ein Fußballspiel am Fernseher beobachten kann, grenzt an Wunder. Ein ganzes Spiel strengt ihn unglaublich an.

Carsten hat einen grenzenlosen Ehrgeiz, er möchte wieder lesen üben. Versucht einmal zu lesen, wenn ihr nur Bruchteile eines Wortes sehen könnt, wenn ihr den Überblick verloren habt, wenn ihr das Wort als Ganzes nicht erfassen könnt! Verdammt schwer! Ich bewundere Carsten, dass er trotz, oder besser mit, seiner Sehschwäche nicht aufgibt. Ganze Bücher wird er nie lesen können, das ist viel zu aufwändig. Dabei hat er Interesse an guten Büchern. Die Bücher müssen seinem Intellekt entsprechen, aber nicht kindlich sein – einfache Sprache wäre gut. Doch zu einfach darf sie auch wieder nicht sein, denn der Kerle liebt Wörter – eines seiner ersten, als er sprechen lernte war Braunkohlenförderband. Das hat ihm Frau Rosenbaum beigebracht und der Papa: Lohnsteuerjahresausgleich. Sein allererstes Wort war: Auto, noch vor Mama und Papa und dann kamen die Bandwurmwörter. 

Also, es ist schwer adäquate Lektüre zu finden. Vorerst  werde ich mit ihm Überschriften aus der Tageszeitung lesen – wenn sie denn heute noch kommt! Wenn ich Kommentare bekomme, dann freue ich mich sehr – viel mehr noch, als über Likes!

Kategorien: Behinderung

21 Kommentare

  1. Kannst Du ihm nicht Texte aus dem Computer zeigen, da lässt sich die Schrift vergrößern.

    • piri ulbrich

      15. April 2019 10:31 — 10:31

      Ja, das haben wir schon gemacht. Aber die Schrift wird so groß, dass Carsten das Wort lesen kann – und das nächste Wort wird auch wieder groß – er liest es und das dauert und dauert und dauert und wenn er das letzte Wort eines Satzes gelesen hat, ist das erste schon wieder weg. Wir erfassen einen Satz, sehen ihn als Ganzes, das kann Carsten nicht sehen und so ist die Visualisierung eine geistige Meisterleistung, die ich bewundernswert finde.

  2. Eines meiner ersten Wörter war Fachwerkhaus :)

    • piri ulbrich

      15. April 2019 10:32 — 10:32

      Auch nicht schlecht. Bedenke Carsten ist zusätzlich geistig behindert!

      • Vergleichen kann man das gar nicht, das war auch nicht meine Absicht. Ich fand es nur witzig, dass komplizierte Wörter offensichtlich eine besonders hohe Anziehungskraft haben.
        Liebe Grüße an Carsten!

  3. Wie wärs mit den Texten von Frau Wildgans? Die haben herrliche Langwörter. Und die Texte selbst sind kurz.

    • piri ulbrich

      15. April 2019 11:12 — 11:12

      Ohne Sonja nahezutreten sind diese, ihre Texte für den Kerle nichts. Er liebt außergewöhnliche Worte, aber sie müssen, für ihn, nachvollziehbar sein und, es müssen nicht unbedingt Bandwurmworte sein. Dennoch Dankeschön für deine Gedanken!

  4. Bandwurmwörter liebe ich auch! 8)

  5. carsten ist tüchtig! das wußte ich nicht, dass er so wenig sehvermögen hat. er schafft ja ganz schön viel, sogar fußballgucken. :good:
    wegen büchern in einfacher sprache guck mal hier im link:
    https://sprachraeume.ekir.de/?page_id=2531

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