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Montagmorgen

Die Sonne scheint. Kein Hagel, nur Verwirrung im Kopf.

 Carsten erinnert sich an die Leselehrerin und vermisst sie: „Du Mama, übst du mit mir lesen?“ Natürlich mache ich das, aber es stellt mich vor eine Aufgabe, von der ich dachte sie abgegeben zu haben. Was lesen wir? Was kann Carsten erfassen? Was sieht er? Sein Sehnerv ist geschädigt, er sieht partiell! Manch kleine Dinge sieht er und Sekunden später sind sie aus seinem Gesichtsfeld verschwunden. Dabei sind sie nicht einen Deut verrückt worden. Carsten hat ein Sehvermögen von 5 – 10%. Genau kann das niemand sagen, es ist kaum messbar. Dass er ein Fußballspiel am Fernseher beobachten kann, grenzt an Wunder. Ein ganzes Spiel strengt ihn unglaublich an.

Carsten hat einen grenzenlosen Ehrgeiz, er möchte wieder lesen üben. Versucht einmal zu lesen, wenn ihr nur Bruchteile eines Wortes sehen könnt, wenn ihr den Überblick verloren habt, wenn ihr das Wort als Ganzes nicht erfassen könnt! Verdammt schwer! Ich bewundere Carsten, dass er trotz, oder besser mit, seiner Sehschwäche nicht aufgibt. Ganze Bücher wird er nie lesen können, das ist viel zu aufwändig. Dabei hat er Interesse an guten Büchern. Die Bücher müssen seinem Intellekt entsprechen, aber nicht kindlich sein – einfache Sprache wäre gut. Doch zu einfach darf sie auch wieder nicht sein, denn der Kerle liebt Wörter – eines seiner ersten, als er sprechen lernte war Braunkohlenförderband. Das hat ihm Frau Rosenbaum beigebracht und der Papa: Lohnsteuerjahresausgleich. Sein allererstes Wort war: Auto, noch vor Mama und Papa und dann kamen die Bandwurmwörter. 

Also, es ist schwer adäquate Lektüre zu finden. Vorerst  werde ich mit ihm Überschriften aus der Tageszeitung lesen – wenn sie denn heute noch kommt! Wenn ich Kommentare bekomme, dann freue ich mich sehr – viel mehr noch, als über Likes!

es hagelt

Draußen und drinnen – in mir. Draußen hagelt es sehr real. Es ist ungemütlich. Drinnen hagelt es wohlmeinende Worte. Per Mail, durchs Telefon und immer haben sie einen anklagenden Tonfall.

Es hagelt auf mich ein. Wohlmeinende Worte erreichen mich. Wollen mich erreichen. Unter dem Deckmantel, es ja nur gut mit mir zu meinen. Ob sie mich erreichen, wenn sie in einem vorwurfsvollen Ton reden? Ich habe dir doch schon vor Jahren von diesem Arzt erzählt! Warum bist du denn dann nach Leipzig gegangen? Hast du erwartet, dass deine Kinder dort geheilt werden? Das Geld hättest du dir sparen können. M. geht auch schon sehr lange in dies Zentrum und sie ist sehr zufrieden. Solche Sätze könnte ich endlos weiterführen. Woher diese Mutter wusste, dass wir in der Humangenetik in Leipzig waren, kann ich nur ahnen. Vermutlich liest sie hier mit. Wahrscheinlicher ist, dass ein ehemaliger Klassenkamerad ihr das brühwarm erzählt hat. Wieder einmal sind nur Halbwahrheiten weitergegeben worden.  Wieder einmal wissen Menschen, die keine Ärzte oder Wissenschaftler sind, mehr. Wieder einmal wurde nicht mit mir darüber gesprochen und meine Beweggründe, warum wir als Familie nach Leipzig gefahren sind, wurden als Wunsch nach Heilung ausgelegt.

Dass ich und auch besonders Carsten, dass wir endlich einmal wissen wollen, wo die Junioren hingehören, zugehörig sind, welche Art des Syndroms sie haben, können so manche Leute nicht verstehen. Natürlich ändert es nichts an unserer Situation – diese bleibt die gleiche. Eine plötzliche Heilung, ein Wunder geschieht nicht. Und das will ich auch gar nicht. Ich möchte nur mit meinen Junioren irgendwo dazugehören – nicht nur mittendrin stehen, auch dabei sein.  Ein bisschen habe ich Angst, Angst vor dem Treffen kleinwüchsiger Menschen. Wir sind lange nicht hingegangen. Es ist harte Arbeit für mich. Aber noch mehr, als die Pflege, scheue ich das Miteinander. Carsten und Wiebke sind die einzigen Kleinwüchsigen, die zusätzlich eine geistige Behinderung haben. Und auch unter Behinderten gibt es Hierarchien: Mit Blödies spricht man nicht! Carsten tut das weh – und mir auch. Die Schlussfolgerung daraus ist, dass Carsten und Wiebke zu Aktivitäten nicht mitgenommen werden, weil sie keiner schieben kann und auch nicht will. Die Junioren bleiben bei mir! Und ich kann mich auf die Gespräche, die ich führen möchte nicht voll und ganz einlassen, weil ich immer im Augenwinkel meine Kinder beobachte. Ergo – ich werde niemanden gerecht! Meinen Gesprächspartnern nicht, weil sie nicht meine volle Konzentration haben, meinen Kindern nicht, weil ich sie sich allein überlassen habe und mir auch nicht, weil ich ein schlechtes Gewissen beiden Parteien gegenüber habe. Wir fahren nach Papenheim!

Noch einmal zu den wohlmeinenden Anrufen und Mails. Es ist alles lieb gemeint und mindestens eine Ratsschlaggeberin wollte mir mit ihren Tipps Enttäuschungen ersparen. Nur ist das Syndrombild ihres Kindes ein völlig anderes!  Birnen mit Äpfel zu vergleichen macht keinen Sinn, auch wenn beides Obst ist. Ich kann ja noch nicht einmal Wiebke mit Carsten vergleichen und sie haben die gleiche Behinderung.

Inzwischen hagelt es zumindest draußen nicht mehr …

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unvollkommen

Who is perfect? Englisch klingt es besser, schöner nicht so dogmatisch und absolut! Es ist doch niemand perfekt. Ich übe perfekt/korrekt/makellos/sicher/optimal zu sein – ich muss es üben und wahrlich, mir fällt das verdammt schwer. Dabei bin ich meilenweit davon entfernt, auch nur ein Quäntchen perfekt zu sein. Aber in mir schlummert der Anspruch!

Niemand ist makellos! Das muss ich mir immer wieder sagen. Bei anderen kann ich inzwischen über so manchen Lapsus hinwegsehen. Ärgern tue ich mich über mich selber, sage aber mittlerweile kaum noch was – ich nehme es hin. Wenn es eine Lappalie ist, wie ein nicht heruntergeklappter Klodeckel oder eine offenstehende Tür, dann hole ich tief Luft, klappe den Deckel runter und schließe die Tür – Aus, Ende, Fertig. Davon geht die Welt nicht unter – den großen Geist stört es nicht und den kleinen geht’s nichts an.

Ich übe nicht perfekt zu sein, ich übe über Unperfektheiten der anderen hinweg zu sehen. Komme gut damit klar, wenn Wiebke ins Bett pinkelt und Carstens Bart nur halb rasiert ist, kann mich über ein Bild des Kerle freuen und über einen schmatzenden Kuss meines Töchting. Auch den Staub auf den Bücherregalen sehe ich nicht und die Krümel auf dem Fußboden stören niemanden – auch mich nicht, wir haben einen Tisch um daran zu essen und wenn Carsten auch unten iss, so hat er immer einen Teller auf dem Teppich stehen.

Heute bin ich zu wenig gelaufen. Nicht einmal gerannt – ich habe viel zu wenige Schritte gemacht. 10000 sollen es täglich sein! Das schaffe ich an Werktagen mit links. Heute sind es nicht einmal die Hälfte. Ich übe es hinzunehmen – ich nehme es so. Im Kreis in der Wohnung zu laufen ist auch keine Lösung. Perfekt ist, zu erkennen, dass es nicht anders geht. Perfekt ist es auch, dass ich heute erst gar nicht gekocht habe und die Junioren machen lassen habe, was sie wollten – nämlich nichts!

Ideal ist es doch, wenn alle zufrieden sind. Ich hatte Zeit zu schreiben, zu denken, an die Wand zu starren, aus dem Fenster zu schauen und zu üben mal Schubladen offen stehen zu lassen – ist verdammt schwer! Ehrlich!

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