Alltag, Behinderung, Familie, Gedanken, Junioren

Mut ist auch

… auszuhalten, dass sich nach einem schönen Tag ein schwarzes Loch auftut. Mut ist auch der Tatsache ins Auge zu blicken, immer dann allein zu sein, wenn Hilfe (seelische und auch tatkräftige) am nötigsten ist. Mut ist es auch, aushalten zu können, wenn das Töchting einen Overload hat, weil das Ausstellfenster in ihrem Zimmer sich nicht schließen lässt. Sie hat deswegen fast zwei Stunden gegreint und ich konnte ihr nicht helfen. Mut ist auch, den Kerle liegen zu lassen, auch auf die Gefahr hin, dass er dicke geschwollene Knie bekommt. Aber es ist ihm wichtig auch einmal zu chillen. Mut ist ebenso, nicht ans Telefon zu gehen, wenn eine bekannte Nummer anruft und die Person dahinter sich eigentlich nur wieder auskotzen will.

Die Junioren sind beruhigt. Mein Adrenalin ist werweißwo. Unsere Terrasse verbeikräutert bzw. verunkrautet, ich sollte dringend duschen. Wiebke braucht mich griffbereit  – das klingt nach Tyrannei, ist es jedoch nicht, denn sie hat einfach nur Angst, dass ich nicht da bin. 

Der Kerle hat nichts gegessen. Das Töchting trinkt nicht, weil sie immer noch im Overload steckt und die flüssige Konsistenz ihr gerade Unbehagen bereitet. Wenigstens sie hat Gemüse und Pilze gegessen. Ich sitze mit der nächsten Tasse Kaffee und er schmeckt mir nicht …

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16:10 Uhr – Ich bin es leid hier immerdestruktiv zu erscheinen. Ich bin allein, fühle mich alleingelassen, auch wenn mir einige wenige helfen wollen, es aber aus verschiedensten Gründen nicht können. Ich weiß es sehr zu schätzen, aber genau darin liegt auch die Krux. Wenn noch nicht einmal professionell geschulte Menschen einen Ausweg aus dieser Misere wissen und es an Zeit und anderweitigen Ressourcen fehlt – wir bräuchten einmal jemanden, der/die die gesamte Komplexität sieht und diese zusammen mit mir aufdröselt.  – Leider haben auch Fachleute manchmal weder Lust noch Zeit noch Wissen dafür zu Verfügung.

Wir brauchen einfach Menschen, die Zeit mit uns verbringen möchten. Teilhabe am Leben, eben!

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Gedanken, Gedicht

so langsam

So langsam müsstest du dich doch an die Behinderung deiner Kinder gewöhnt haben!

Wenn ich solche Sätze höre, dann zweifle ich an echtem Interesse meines Gegenübers. Vorab aber erst einmal ein Gedicht eines Lieblingsdichters von mir:

Mit Quevedo im Frühling

Alles ist erblüht
hier auf den Fluren, Apfelbäume,
stammelnd Blautöne, gelbes Gestrüpp,
und im grünen Grase lebt der Mohn.
Himmel unauslöschlich, junge Luft
an jedem Tag, verschwiegener Glanz,
vom weitgespannten Frühling ein Geschenk.
Nur wo ich zu Haus bin, ist nicht Frühling.
Krankheiten, kopflose Küsse wuchern
wie das Efeu an der Kirche
über meines Lebens schwarze Fenster,
Liebe allein genügt nicht mehr und nicht
der wilde, weitgespannte Duft des Frühlings.

Und was sind jetzt in deinen Augen
das Licht, entfesselt, die Entfaltung,
blütenhaft, des Offenbaren, das grüne
Lied der grünen Blätter, das Erscheinen
des Himmels mit dem Kelch voll Kühle?
Frühling, du draußen, peinige mich nicht,
lass nicht los in meinen Armen Wein und Schnee,
Blütenkrone, geknickten Kummerstrauß,
schenk nur heute mir den Schlaf der nächtigen
Blätter und die Nacht, darin die Toten
liegen, die Erze und die Wurzeln
und die Vielzahl der erloschnen Lenze,
die in jedem Lenz wieder erwachen.

Pablo Neruda

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Es geht doch nicht darum, sich an die Behinderung zu gewöhnen. Selbstverständlich habe ich diese längst akzeptiert und hadere auch nicht warum, weswegen und wer Schuld ist! Ich gewöhne mich allerdings nie an blöde ableistische Sprüche und seien sie noch so wohlwollend gemeint. Täglich, wirklich täglich, hören meine erwachsenen Junioren wie niedlich sie doch sind. Aber auch: „Ihr seid schließlich behindert und könnt deswegen nicht einfach mal schnell zum Eis essen mit dem Bus in die Stadt fahren. Ich habe keine Zeit euch zu begleiten!“

Dass Carsten und Wiebke behindert werden  – es per se nicht sind, ihnen und mir Steine in den Weg gelegt werden – allein ein Spaziergang um den Block herum ist eine logistische Herausforderung, denn da gibt es eine steilere Stelle, die ich nur nacheinander mit den Rollstuhlfahrenden bewältigen kann. Warum sieht man so wenige Menschen in Rollis? So wenige behinderte? Nicht, weil es sie nicht gibt, sondern weil der ganz normale Alltag bei ihnen schwieriger ist, als bei anderen.

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Ich habe es schon ein paarmal geschrieben: Guckt euch in eurem Umfeld um und seht sie – die anderen, anders normalen Menschen. Zeigt es ihnen aber auch, dass ihr sie seht!

Behinderung, Junioren, Kuddelmuddel

Post vom Amtsgericht

Wir können sie ihnen nicht bieten. Die wundersame Heilung der Behinderung meines Töchtings. Sie ist immer noch behindert und braucht immer noch eine Betreuung. Keine freiheitsentziehenden Maßnahmen, aber Hilfe im Alltag und allen entscheidenden Lebenslagen. Gut – jetzt gehen wir wieder einmal den Weg durch die Instanzen, holen uns ein ärztliches Gutachten und danach darf sich meine Tochter amtsärztlich behördlich begutachten und ausfragen lassen. Auf die Wunderheilung warten wir nicht, ganz bestimmt nicht. Wir wüssten gar nichts damit anzufangen!