Gedicht

Knecht Ruprecht

Von drauß‘ vom Walde komm ich her,
Ich muß euch sagen, es weihnachtet sehr!
Allüberall auf den Tannenspitzen
Sah ich goldene Lichtlein sitzen.
Und droben aus dem Himmelstor
Sah mit großen Augen das Christkind hervor.
Und wie ich so strolcht‘ durch den dichten Tann,
Da rief’s mich mit heller Stimme an;
,Knecht Ruprecht‘, rief es, ,alter Gesell,
Hebe die Beine und spute dich schnell!
Die Kerzen fangen zu brennen an,
Das Himmelstor ist aufgetan,
Alt‘ und Junge sollen nun
Von der Jagd des Lebens einmal ruhn;
Und morgen flieg ich hinab zur Erden,
Denn es soll wieder Weihnachten werden!‘
Ich sprach: ,O, lieber Herre Christ,
Meine Reise fast zu Ende ist;
Ich soll nur noch in diese Stadt,
Wo’s eitel brave Kinder hat.‘
,Hast denn das Säcklein auch bei dir?‘
Ich sprach: ,Das Säcklein, das ist hier;
Denn Apfel, Nuß und Mandelkern
Fressen fromme Kinder gern!‘
,Hast denn die Rute auch bei dir?‘
Ich sprach: ,Die Rute, die ist hier!
Doch für die Kinder nur, die schlechten,
Die trifft sie auf den Teil, den rechten!‘
Christkindlein sprach: ,So ist es recht,
So geh mit Gott mein treuer Knecht!‘
Von drauß‘ vom Walde komm ich her;
Ich muß euch sagen, es weihnachtet sehr!
Nun sprecht, wie ich’s hierinnen find?
Sind’s gute Kind, sind’s böse Kind?

Theodor Storm

Veröffentlicht von piri

✨ In Momenten, in denen ich an mir und meiner Arbeit zweifle und meine, nichts Gutes auf die Reihe zu bekommen, denke ich manchmal daran, mir kurz das, was ich schon geschafft habe, anzuschauen. Dann geht's wieder. ✨ Hier gibt es die Möglichkeit etwas in den, wenn auch nur virtuellen Hut zu werfen. Herzlichen Dank!

4 Gedanken zu „Knecht Ruprecht“

  1. Verwandlerin sagt:

    Kann mein Papa heute noch auswendig.

  2. Gudrun sagt:


    „So nehmet denn Christkindleins Gruß,
    Kuchen und Äpfel, Äpfel und Nuß;
    Probiert einmal von seinen Gaben,
    Morgen sollt ihr was Besseres haben.
    Dann kommt mit seinem Kerzenschein
    Christkindlein selber zu euch herein.
    Heut hält es noch am Himmel Wacht;
    Nun schlafet sanft, habt gute Nacht“

    Ich bin so froh, dass ich Storms Haus in Husum noch besuchen konnte, bevor die ganz argen Gehprobleme losgingen, denn ich mag seine Gedichte, Novellen, anderes.
    Meine Beiträge dazu sind mit meinem alten Blog untergegangen, aber ich habe die Fotos noch.

  3. N. Aunyn sagt:

    Eine schöne Kindheitserinnerung – danke. Wußte nicht, dass es von Storm ist.

    1. piri sagt:

      Gern geschehen.

Kommentare sind geschlossen.