Kuddelmuddel

Die gedachte Überschrift ist überholt

Die Umstände sind manchmal gegen die Revolution

Eine Revolution kann ich mir nicht leisten. Wer kann das schon, der pflegt? Da muss man nehmen, was kommt oder selber machen. Wie gerne würde ich wieder auf die Barrikaden gehen, nur leider fehlt mir dazu die Kraft und die Zeit. Auch Mitstreiter sind eher Mangelware hier auf dem Land. Und Helfer – aber da sind wir wieder beim Thema.

Als MamS noch lebte – er hat übrigens morgen Geburtstag – da haben wir gemeinsam gekämpft. Um ein gutes Wohnheim, um Rollstühle, um gesellschaftliche Anerkennung unserer behinderten Kinder, gegen Ausgrenzung und um einen guten Schulplatz. Gerade beim Schulplatz für Carsten haben wir revoltiert. Der Kerle ist ein Radio, er redet ohne Punkt und Komma – aber fast nie dummes Zeug. Carsten will wissen, er wollte schon immer lernen und das, was er kann, das will er auch anbringen. In der G-Schule war er immer der kleinste, aber auch der gewiefteste Schüler – und leider ziemlich vorlaut. Wenn er etwas wusste, musste das raus. Dass er nicht alles sofort herausposaunen kann, hat Carsten schlussendlich doch begriffen. Wenn aber, nach längerer Zeit keiner seiner Mitschüler eine Antwort wusste, konnte er nicht mehr an sich halten und erklärte mit vielen Worten seine Antwort. Das war besonders einer Lehrerin zu anstrengend. Sie stellte ihn kurzerhand vor die Klassentür.

Dort stand er einmal wieder als ich in meiner Funktion als Elternsprecherin zum Rektor wollte. Ich habe mir meinen Sohn geschnappt und mitgenommen. Der Rektor war erstaunt: „Warum bringen Sie Ihren Sohn mit?“ Das war das richtige Stichwort. Die automatische Schultür war nicht abgeschlossen, der Weg dahin nicht übermäßig weit, keine Aufsichtskraft war zu sehen und die Straße viel befahren. Es war also wirklich fahrlässig von der Lehrerin Carsten vor die Tür zu stellen. Ca. 5 Minuten hat es gedauert, bis der Rektor sagte: „Gehen wir doch gemeinsam ins Klassenzimmer und fragen die Kollegin warum sie Carsten vor die Tür gestellt hat!“ Dagegen war nichts einzuwenden. Die gute Frau war bass erstaunt, als wir ins Zimmer kamen – mit Carsten im Schlepptau.
„Er hat den Unterricht gestört! Ich muss mit den anderen Kindern auch einen angemessenen Unterricht machen können, da kann ich einen, der alles weiß, einen Dauerredner nicht gebrauchen.“ Sie hätte das schon mehrmals gemacht und noch nie wäre etwas passiert. „Ja“, denn das war mein Stichwort; „einmal ist immer das erste Mal und Sie konnten nicht dafür garantieren, dass mein Sohn nicht auf die Straße rollt!“

Ich schnappte mir mein Kind und das aus dem Kindergarten und fuhr heim. Am Abend haben wir beratschlagt. Am nächsten Tag war ich auf dem Schulamt, um mich zu erkundigen, welche Möglichkeiten wir noch hatten, unseren Sohn zu beschulen. Ich wusste, dass nahe der orthopädischen Klinik eine Körperbehinderten Schule war. Dort habe ich einen Termin ausgemacht und noch vor dem neuen Schuljahr ging Carsten dort hin. Wiebke wurde 1 Jahr später gleich dort eingeschult. Die Kinder fuhren jeden Tag über die Autobahn 45 km zur Schule, waren abends um 16:30 Uhr daheim und gingen morgens um 7:30 Uhr aus dem Haus. Carsten ging es gut damit. Er hat lesen gelernt! Nur leider gab es damals noch keine PC zum Vergrößern der Schrift. Durch seine starke Sehschwäche erfasst der Kerle nicht das gesamte Wort und lesen ist sehr mühsam für ihn. Was aber viel wertvoller war ist die Tatsache, dass Carsten ernst genommen wurde. Sein Wissensdrang wurde gestillt und wenn nötig in Einzelunterricht.

Wir sind dafür auf die Barrikaden gegangen, haben es durchgefochten und erreicht, dass andere nach Carsten keine so großen Hürden hatten. Es hat Kraft gekostet – enorm viel Kraft!

Veröffentlicht von piri

✨ In Momenten, in denen ich an mir und meiner Arbeit zweifle und meine, nichts Gutes auf die Reihe zu bekommen, denke ich manchmal daran, mir kurz das, was ich schon geschafft habe, anzuschauen. Dann geht's wieder. ✨ Hier gibt es die Möglichkeit etwas in den, wenn auch nur virtuellen Hut zu werfen. Herzlichen Dank!

5 Gedanken zu „Die gedachte Überschrift ist überholt“

  1. mijonisreise sagt:

    Ein schöner Erfolg und ich glaube, du wirst immer weiter kämpfen, auch wenn du müde davon bist, denn du bist Mutter
    Ich drück dich und schick ein wenig Kraft und Zuversicht ❤

    Und … Zufälle gibt’s … Morgen wäre auch der Geburtstag meines Vaters.

  2. Paula sagt:

    Bravo, was ihr schon alles geschafft habt, großartig!

  3. pflegeundkunst sagt:

    Ja, es kostet Kraft. Deshalb viel Kraft und auch den Erfolg dazu.

  4. piri ulbrich sagt:

    Danke und Willkommen!

  5. Wechselweib sagt:

    Nicht umsonst geht die Revolution oft von der Oberschicht aus und eben nicht von Bauern und Arbeitern. Es stimmt: Revolution muss man sich leisten können. Im Großen und im Kleinen.

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