Kuddelmuddel

ach, manchmal fällt mir keine Überschrift ein

Irgendwann hat der CD-Player zu spielen aufgehört. Ich habe es nicht bemerkt. Vor mir auf dem Wohnzimmertisch sehe ich eine Ansammlung von Dingen, die nichts mit mir zu tun haben – oder doch? Da ist ein leeres Weinglas, die Zeitung von gestern, das Aufgabenheft meiner Tochter, ein überfüllter Aschenbecher, meine Armbanduhr. Die ist allerdings interessant. Die Art, wie der Sekundenzeiger seine Runden über das blaue Ziffernblatt dreht, hat etwas Gnadenlos-Endgültiges.

Im Vorzimmer sind Schritte zu hören, kurz darauf das Rauschen von Wasser in der Küche. Silvia ist wohl noch einmal aufgestanden, um sich ein Glas Wasser zu holen. Nun steht sie in der Wohnzimmertür. Ich spüre ihren Blick auf mir, habe aber keine Lust, mich zu ihr umzudrehen. Diesen leicht angewiderten, leidenden Gesichtsausdruck, den sie jetzt sicher wieder hat, kenne ich zur Genüge.

„Was tust du denn noch? Komm ins Bett!“

Da ist ja auch wieder der besorgte und gleichzeitig vorwurfsvolle Unterton in ihrer Stimme.

„Gleich.“

Nach einem kurzen Moment des Wartens verlässt Silvia endlich mit einem Seufzen den Raum. Ich werde noch so lange hier sitzen bleiben, bis ich sicher sein kann, dass sie eingeschlafen ist. Es ist inzwischen zu einem beinahe allabendlichen Ritual zwischen uns geworden: ihr frühes Zu-Bett-Gehen, die Bitte, ich möge bald nachkommen, mein Ausharren im Wohnzimmer und meine anschließende Erleichterung beim Betreten des Schlafzimmers, wenn sich halbherzige Worte und Gesten erübrigen, weil sie schon schläft.

Aus der Küche ist das leise, stetige Tropfen des Wasserhahnes zu hören. Silvia hat ihn wohl wieder einmal nicht ordentlich zugedreht. Der Sekundenzeiger meiner Uhr rückt im selben Rhythmus wie das „Plopp! Plopp!“ der Wassertropfen voran. Soll ich mir noch ein Glas Wein holen? Nein, es ist zu mühsam. Ich fühle mich wie gelähmt. Die Zeit verrinnt, und es geschieht nichts. Natürlich geschieht ständig etwas: Gestern habe ich in der Firma einen wichtigen Auftrag an Land gezogen. Vor drei Tagen war ich mit Silvia in der Oper. Morgen werde ich mit meiner Tochter für die Englischarbeit üben. Doch all diese Dinge geschehen außerhalb von mir; ich sehe mir selbst dabei zu.

Wie lange ist es her, dass ich mich zum letzten Mal wirklich über etwas geärgert habe? Wann habe ich das letzte Mal aufrichtige Freude, Rührung oder Mitleid empfunden? Oder gar etwas, das den Namen Liebe verdient?

Scherze mit Freunden, geschäftliche Verhandlungen, Umarmungen meiner Tochter, Sex mit meiner Frau – alles läuft mechanisch ab und berührt mich nur an der Oberfläche. Nicht einmal die Musik vermag den unsichtbaren Panzer, der mein Inneres umgibt, noch zu durchdringen.

Irgendetwas muss geschehen, damit ich diese Distanz zu meinen eigenen Handlungen, zu den Menschen, die mich umgeben, und letzten Endes zu mir selbst überwinden kann. Irgendwie muss ich wieder lernen, mich lebendig zu fühlen. Noch weiß ich nicht wie, aber plötzlich bin ich sicher, dass ich es schaffen werde. Schluss mit dem zwanghaften Starren auf die Uhrzeiger und ab ins Badezimmer!

Vielleicht ist Silvia doch noch nicht eingeschlafen? Ich will sie in die Arme nehmen und ihr sagen, dass ich ab morgen wieder zu leben beginnen werde. Vielleicht werde ich bei dieser Umarmung sogar wieder ein bisschen Wärme und Zuneigung empfinden? Wahrscheinlich wird Silvia nicht gleich verstehen, was ich meine, aber sie wird spüren, dass sich etwas zu verändern beginnt.

Was ist das für ein Gefühl, das mich unter der Dusche mit einemmal erfüllt? Hoffnung? Vorfreude? Ich kann es kaum fassen – bin ich tatsächlich noch zu solchen Empfindungen fähig?

Leise betrete ich das Schlafzimmer und nähere mich im Dunkeln Silvias Bett. Behutsam taste ich nach der Bettdecke, streiche leicht darüber. Sie fühlt sich glatt und kühl an, da ist nichts uneben oder zerwühlt. Silvias Bett ist leer. Erst jetzt bemerke ich, dass das Fenster weit geöffnet ist. Der kalte Luftzug, der hereindringt, lässt mich frösteln.

 

Veröffentlicht von piri

✨ In Momenten, in denen ich an mir und meiner Arbeit zweifle und meine, nichts Gutes auf die Reihe zu bekommen, denke ich manchmal daran, mir kurz das, was ich schon geschafft habe, anzuschauen. Dann geht's wieder. ✨ Hier gibt es die Möglichkeit etwas in den, wenn auch nur virtuellen Hut zu werfen. Herzlichen Dank!

4 Gedanken zu „ach, manchmal fällt mir keine Überschrift ein“

  1. Der Emil sagt:

    Hm. Kuddelmuddel ist das nicht.

    Es macht Lust auf mehr davon!

    1. piri ulbrich sagt:

      Fortsetzung gibt es nur im Real Life!

  2. violaetcetera sagt:

    Ist zwar Fiktion, aber ich möchte nicht wissen, wie oft so etwas im wahren Leben passiert: Dass man sich erst zum Handeln aufrafft, wenn es zu spät ist. Zum Glück sind die Folgen nicht immer so drastisch wie hier.
    Die Geschichte ist jedenfalls sehr schön zu lesen.

    1. piri ulbrich sagt:

      Es muss ja nicht immer das offene Fenster und das leere Bett sein.

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